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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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umfing, kam von innen, aus ihr selbst …
    Dann war es ebenso plötzlich wieder hell um sie. Die Sonne flutete in den Raum, die Hochzeitsgäste sangen. Nur das Harmonium schien ihr jetzt unerträglich zu dröhnen. Da riß sie die Tür der kleinen Kapelle auf, stürzte hinaus auf den Gang und hielt sich beide Ohren zu.
    Wieder durchzog sie dieses Schwächegefühl. Vor ihr kreisten die Türen, die Wände, die Schwestern. Mit letzter Willenskraft ging sie in ihr Zimmer. Dort warf sie sich auf das Bett, bedeckte die Augen mit den Händen und atmete tief durch … immer und immer wieder, als pumpe sie mit jedem Atemzug die entfliehende Kraft zurück in den schlaffen Körper.
    So traf Dr. Wüllner sie an, als er nach der Trauung schnell bei Marianne Pechl hereinsah. Sie lag noch ausgestreckt da, bleich, mit eingefallenem Gesicht und dunklen Ringen unter den Augen. Wüllner setzte sich auf die Bettkante und legte die Hand auf Mariannes kalte Stirn.
    »Was ist denn?« Er tastete nach dem Puls. Er war flach. »Warum läutest du nicht? Ist dir nicht gut? Da muß doch was geschehen …«
    Er wollte aufspringen, aber sie hielt ihn am Ärmel seiner Jacke fest und zog ihn zu sich zurück.
    »Eine kleine Schwäche … es ist doch nichts, Fritz …« Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und küßte ihn auf die Augen und auf die Nasenspitze. »Ich habe es mir eben ausgerechnet: In den letzten fünf Tagen habe ich genau zwölf Stunden Schlaf gehabt. Einmal macht der Körper schlapp.«
    »Das ist mehr als eine Erschöpfung, Marianne.« Wüllner sah ihre müden Augen, die schlaffe, gelbliche Haut. »Mach' mir bloß keine Sorgen.«
    Sie lächelte. »Nein …«
    »Kann ich etwas für dich tun?«
    Sie schüttelte den Kopf. Tränen traten ihr in die Augen. »Ich bin unheilbar in dich verliebt, Fritz, das ist alles …«
    »Marianne!« sagte Wüllner, ohne auf ihren Ablenkungsversuch einzugehen. »Ich werde noch heute mit dem Chef sprechen. Du mußt ausspannen. Deine Nerven sind überanstrengt. Wenn du dich im Spiegel sehen könntest …«
    »So schlimm?« Sie lächelte krampfhaft. »Jetzt stell dir vor, wie ich in zwanzig oder dreißig Jahren aussehen werde. Ein altes, häßliches Weib. Du solltest es dir überlegen, mich zu heiraten …«
    »Welch eine Dummheit. Dann habe ich vielleicht eine Glatze, einen riesigen Bauch und schnappe asthmatisch nach Luft.« Er hielt ihre Faust fest, die nach ihm boxte. »Als ich neben Wottke und Lisbeth stand, dachte ich, wir sollten auch nicht lange zaudern …«
    »Laß uns noch ein halbes Jahr warten, Fritz.«
    »Warum? Das Aufgebot ist schnell bestellt …«
    »In einem halben Jahr bekommt meine Mutter eine Versicherung ausgezahlt. Zehntausend Mark. Wir sollen sie bekommen. Ich will nicht mit leeren Händen zu dir kommen.«
    »Aber das ist doch Blödsinn! Verzeih das Wort, Marianne, aber es ist Blödsinn. Ich heirate doch dich, nicht deine zehntausend Mark!«
    »Trotzdem, Fritz. Sechs Monate … sie gehen ja vorüber wie sechs Wochen, sechs Tage, sechs Atemzüge … Es liegt doch nichts zwischen uns als ein Stück Flur von fünf Meter Länge. So nah sind wir uns täglich … Was können da sechs Monate bedeuten …?«
    Wüllner erhob sich. Er kämmte sich in Mariannes Spiegel die zerwühlten Haare. Durch den Spiegel sah er zurück auf das Bett. Marianne lag in den Kissen wie die dreißig Kranken, die nicht mehr aufstehen konnten …
    »Ich übernehme deine Station mit«, sagte Wüllner und drehte sich zu Marianne um. »Und du bleibst im Bett!«
    »Fritz …«
    »Keine Widerrede …«
    Auf dem Gang prallte er auf Dr. Hansen, der aus einem der Krankenzimmer kam.
    »Nanu – so in Gedanken, Herr Kollege, wo doch heute ein Festtag für uns alle ist?«
    Dr. Wüllner sah Hansen an, als bemerke er ihn erst in diesem Augenblick. Das machte Hansen stutzig.
    »Ist was?« fragte er.
    »Ich muß mit Ihnen sprechen, Chef«, sagte Wüllner.
    »Wegen Fräulein Pechl?«
    »Ja. Sie hat heute abgebaut. Ich soll es Ihnen nicht sagen, aber ich mache mir Sorgen. Sie ist nervlich völlig fertig. In fünf Tagen zwölf Stunden Schlaf. Wenn wir Männer das schon spüren … Fünfundsiebzig Schwerstkranke zu betreuen, das zehrt auch an unseren Kräften, Chef.«
    »Es ginge uns besser«, sagte Hansen, »wenn wir mehr geeignete und idealistische Ärzte hätten. Leider kommen sie nicht zu uns, Wüllner. Wissen Sie schon das Neueste: Die Assistentenzeit in meiner Klinik wird nicht anerkannt! Ich habe es gestern schriftlich

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