Die Begnadigung
hilfloses Achselzucken übriggeblieben. Die Frucht einer über 2000jährigen Krebsforschung: Ein Achselzucken …
So ungern sich Färber daran erinnerte … in diesen Stunden war ihm in der letzten Zeit aber auch immer häufiger ein Satz in den Sinn gekommen, den Dr. Hansen in einem seiner Artikel zitierte: ›Die schlimmste Belastung für den Krebskranken ist der pessimistische Arzt.‹
Leicht gesagt, ein Arzt darf kein Pessimist werden … zumal ein Arzt, der wie Dr. Färber täglich am OP-Tisch steht. Aber eine Erkenntnis wenigstens, so negativ sie war, war vielleicht positiver zu werten: Mit dem Wegschneiden des örtlichen Tumors schien es oft tatsächlich nicht getan zu sein. Und mit der nachfolgenden Strahlentherapie auch nicht. Und selbst wenn Heilungen zu verzeichnen waren, sie waren nur allzu häufig mit Strahlenschäden erkauft … Es mußte noch etwas anderes, mehr hinzukommen, um den dauernden Erfolg einer Operation zu sichern. Und wenn das so war, dann wollte sich auch Dr. Färber endlich einmal der Literatur der internen Krebstherapie eingehender widmen …
Färber hatte alles erreichbare Material über dieses Kapitel der modernen Medizin heimlich gesammelt. Wie einen Schatz verschloß er die Ausschnitte, Berichte und Artikel, die er in einem dicken Aktendeckel verwahrte, in seinen Haustresor. Er wußte, daß er zum Ketzer geworden war, daß er drauf und dran war, Runkel, der in Färber seinen Nachfolger sah, in den Rücken zu fallen …
Fast dreihundert Seiten hatte Färber zusammengetragen, dreihundert Seiten Berichte über das Für und Wider der Strahlenbehandlung, als ihn Professor Runkel auf den Kongreß schickte und ihm die Möglichkeit gab, eine moderne Strahlenklinik zu besichtigen.
Färber hatte vor einem Wunderwerk der Technik gestanden. Mit einem Aufwand von Millionen Mark hatte man eine Klinik geschaffen, aus Beton, Glas und Chrom, mit Labors, vorbildlichen Krankenzimmern, wundervollen Ordinationsräumen, verwirrend vollkommenen Geräten … ein Treibhaus der Heilung, in dem die Zukunft wirklich schon begonnen zu haben schien.
Der Chef selbst, Professor Lücknath, hatte Runkels Oberarzt durch das riesige Haus geführt und ihm alles gezeigt. Vor dem aufgehenden Star der Chirurgie gab es nichts zu verbergen. Chirurgie und Strahlentherapie wuchsen zusammen wie Siamesische Zwillinge … einmal würde der Zeitpunkt gekommen sein, wo in der Krebsbehandlung der eine nicht mehr auf den anderen verzichten konnte.
Mit besonderem Interesse hatte Färber die Bestrahlungsräume besichtigt. In kleinen Kabinen, die von meterdicken Betonmauern umgeben waren, nur beobachtet durch dicke Scheiben und ferngesteuert, lagen die Patienten auf den Tischen und wurden tiefenbestrahlt, Kobaltkanonen drehten sich langsam um die Körper, summend zitterten die Zeiger auf den Kontrolluhren eines 30-Millionen-Volt-Betatrons.
Zyklotrone, Rheotrone und komplizierte Apparate zur Herstellung radioaktiver Isotope demonstrierten den Fortschritt fast beklemmend …
Färbers Beklommenheit wuchs, je länger er auf der Heimfahrt vom Kongreß an seinen Besuch in dem Strahlen-Institut dachte.
Ein ungeheurer Zwiespalt war in ihm aufgerissen.
Was ist richtig, fragte er sich zum hundertstenmal. Wir operieren, wir bestrahlen, wir machen radioaktive Einlagen … und wie sah die Überlebensquote aus …
Professor Runkel saß hinter seinem Schreibtisch und sah Gutachten seiner Assistenten durch. Die jungen Leute waren schlecht bezahlt. Er teilte das Honorar, das ihm eigentlich zustand, unter sie auf.
Das war eine der guten Seiten Runkels, vielleicht die menschlichste an ihm. Er kannte die Not der jungen Ärzte aus seinen eigenen Assistenzjahren. »Nicht mit knurrendem Magen sollen die Kerle im OP stehen, sondern mit Freude!« hatte er einmal gesagt. »Wenn der Staat das nicht einsieht, müssen eben die Knechte zusammenhalten!«
Ein Ausspruch, der bereits klassisch geworden war und Runkel in akademischen Kreisen mit einem Glorienschein umgab.
Dozent Dr. Färber kam in das Chefzimmer, unter dem Arm eine dicke Akte. Runkel sah auf. Er war bester Laune.
»Schleppen Sie neuerdings Archive herum, Färber?« fragte er lachend. »Oder haben Sie auf dem Kongreß Prospekte gesammelt?«
Dr. Färber hatte längst keinen Sinn mehr für Runkels Späße.
»Es sind keine Prospekte, Herr Professor«, sagte er knapp.
Verwundert musterte ihn Runkel. Das Gesicht seines Oberarztes war bleich, übernächtigt, mit umschatteten Augen. »Ich habe
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