Die Begnadigung
Material gesammelt …«
»Material? Das klingt ja wie eine Anklage!«
»Vielleicht ist es eine …«
Färber holte tief Luft.
»Sie haben mich gefördert, Herr Professor, wo es nur ging. Ihnen verdanke ich die Dozentur, die Stelle als Erster Oberarzt, die Möglichkeit, einen Namen zu bekommen. Ich weiß, was ich Ihnen schulde an Dank, an Ehrfurcht, an Pflichterfüllung. Aber ich weiß auch, was ich dem ärztlichen Gewissen gegenüber zu verantworten habe. Dankbarkeit und Gewissen sollten Geschwister sein … in meinem Falle sind es erbitterte Feinde.«
Professor Runkel schob seine Brille wieder auf die Stirn. Mit seinen stechenden, kleinen Augen musterte er Färber.
»Sie haben wieder getrunken. Nicht wahr?«
»Nein – ja. Aber ich habe …«
»Geh'n Sie nach Hause und legen Sie sich ins Bett. Heute steht nichts besonderes an. Das kann Vollmar machen. Menschenskind … Sie müssen endlich über die Sache mit Ihrer Frau wegkommen können …«
»Es handelt sich nicht um meine Frau, Herr Professor.« Färber legte beide Hände auf das dicke Aktenstück, auf seine Sammlung von dreihundert Seiten Versagen. »Ich habe Zweifel an unserer Krebsbehandlung … Ich weiß nicht mehr, ob wir verantwortungsvoll genug handeln …«
»Färber!« Professor Runkel sprang auf. »Sie sind ja besoffen!«
Dozent Dr. Färber senkte den Kopf. Er schluckte die Grobheit Runkels wie eine bittere Medizin. Ohne seinen Chef anzusehen, schlug er den Aktendeckel auf und blätterte in den Artikeln und Berichten. Runkel sah mit deutlichem Unbehagen auf die Schriftstücke.
»Kommen Sie mir nicht mit sogenanntem Material. Das ist gefärbtes Wasser! Auf hundert Meinungen gibt man zweihundert Gegenmeinungen. Und alles ist sogar beweisbar! Das ist das merkwürdige in der Medizin, daß man jede gegenteilige Ansicht wissenschaftlich belegen kann! In der Mathematik ist zweimal zwei gleich vier … aber über die Entstehung des Krebses gibt es seit den alten Ägyptern einige tausend Theorien. Und alle sind sogar beweisbar! Und alle zusammen sind nichts wert! Von diesem Paradox leben wir Ärzte!«
Runkel griff über den Tisch und klappte ostentativ die Schriftmappe wieder zu.
»Färber! Sie sind ein blendender Chirurg … ich sage das ungern, denn euch jungen Leuten steigt das in den Kopf! Jetzt muß ich es sagen, um Sie von einem falschen Weg zurückzureißen. Bleiben Sie Chirurg, und lassen Sie den Kollegen von der Strahlenklinik ihre Strahlen und Isotope. Und lassen Sie diesem Hansen auch seine biologische Therapie. Wir sollten uns um unser Gebiet kümmern.«
»Sie rufen mich zur Toleranz auf, Herr Professor? Sie mich?« Färber spürte, wie Schweiß auf seine Stirn trat. Professor Runkel ging mit kurzen schnellen Schritten auf und ab.
»Toleranz ist auch so ein Wort, Färber! Sagen wir lieber: Wir wurschteln weiter …«
»Herr Professor!« rief Färber entsetzt.
»Sollen wir uns etwas vormachen? Ich glaube, wir kennen uns zu gut, wie zwei. Ich habe ein Lehrbuch über die Krebsoperationen geschrieben. Nach diesem Lehrbuch unterrichte ich seit zwanzig Jahren meine Studenten. Meine Grundauffassung ist die Lehre vom lokalen Tumor, von einer Degeneration der Zelle. Einige tausend junge Mediziner habe ich so herangebildet … in meinem Sinne, nach meiner Lehre arbeiten sie jetzt in aller Welt. Soll ich jetzt hingehen, ich, der Runkel, und vor die Welt treten und sagen: Da ist ein kleiner Arzt, Doktor Hansen heißt er, der behauptet, der Krebs sei eine chronische Allgemeinerkrankung des Körpers und deshalb in erster Linie ein Aufgabenbereich der internen Medizin. Der kleine Mann da hat recht. Ich widerrufe meine Lehre, ich habe zwanzig Jahre lang Tausende Studenten etwas Falsches gelehrt … Kann man das von mir verlangen, Färber?«
Professor Runkel starrte Färber an, der langsam seine dicke Akte vom Schreibtisch nahm.
»Herr Professor …«, sagte Färber leise.
»Ja oder nein? Wir sind Chirurgen, Färber. Bei uns gibt es nur ein Entweder – Oder!«
»Ich denke nicht an den Ruhm oder die Ehre eines einzelnen Mannes, Herr Professor … ich denke an die Krebskranken, die eine größere Heilchance hätten, wenn in der Medizin Einigkeit herrschte, Aufgeschlossenheit für Neues, kein Brotneid, keine Mißgunst, keine Selbstüberschätzung, keine Arroganz gegenüber den einsamen Rufern.«
Runkels Gesicht wurde rot. Er hörte die Vorwürfe heraus, und er wehrte sich dagegen, von einem Oberarzt wie ein Schuljunge abgekanzelt zu
Weitere Kostenlose Bücher