Die Begnadigung
bekommen. Wenn Doktor Peltzer und Doktor Reitmayer noch bei uns bleiben, wäre das ein Opfer von ihnen, das wir eigentlich nicht annehmen dürften.«
»Wenn nicht hier – wo dann könnte man lernen, wie man Kranke betreut?« rief Wüllner.
»Machen Sie das draußen unseren Gegnern einmal klar … Wir müssen uns damit abfinden, Wüllner: Redeverbot, keine Anrechnung auf die Assistentenzeit, Ablehnung aller schriftlichen Arbeiten, Nichtzulassung zu Kongressen … Aber wir wollten über Fräulein Pechl sprechen … Sie hat schlappgemacht?«
»Sie war völlig ermattet, als ich nach ihr sah.«
»Wenn Sie ihre Station mit übernehmen, schicke ich sie sechs Wochen zur Erholung in die Berge …«
»Genau das wollte ich Ihnen vorschlagen, Chef.«
»Und Sie? Wenn Sie zusammenbrechen?«
»Ich bin ein zäher Bursche, Chef. Und für Marianne tue ich alles …«
»Wann heiratet ihr?«
»In einem halben Jahr. Marianne will es so.«
Hansen lächelte. Wenn es mehr solche Menschen gäbe wie diese beiden, dachte er.
»Ich rufe in Oberstdorf an. Fräulein Pechl kann vielleicht schon übermorgen fahren …«
Am gleichen Tag, an dem Wottke mit seiner jungen Frau auf die Hochzeitsreise ging, in die Lüneburger Heide, »wo es ganz ruhig ist und ich nur meine Lisbeth höre …«, fuhr auch Marianne.
Auf Bitten Hansens hatte man in einem großen Sanatorium in Oberstdorf ein Bett freigemacht. Weniger aus Kollegialität als aus Neugier, aus nächster Nähe eine Ärztin zu erleben, die fast zwei Jahre in einer Krebsklinik arbeitete, von der man Wunderdinge hörte.
»Paßt auf, Kinder, jetzt werden wir allerlei erfahren«, sagte der Chefarzt des Sanatoriums zu seinen Kollegen. »Dieses Fräulein Pechl werden wir nach allen Regeln der Kunst ausquetschen. Soll im Dienst zusammengebrochen sein, wie Kollege Hansen sagte. Hoffentlich ist sie keine Fanatikerin, bei solchen Frauen weiß man nie … na ja … warten wir ab.«
Die ›Fanatikerin‹ erregte helles Entzücken, als sie mit dem Klinikwagen, der sie vom Bahnhof abholte, vorfuhr. Die Ärzte konnten es gar nicht fassen, welch ein wohlgelungenes Geschöpf ihnen dieser Dr. Hansen da ins Haus schickte.
»Miß Krebsarzt!« sagte einer der jungen Ärzte. »Wer hätte das gedacht!«
»Man sollte es nicht für möglich halten!« Der Chefarzt rückte den Schlipsknoten zurecht. »So jemand schlägt sich seit fast zwei Jahren mit hoffnungslosen Fällen herum!« sagte er kopfschüttelnd. »Jetzt bewundere ich Hansen, daß er so etwas in seinem Sterbehaus überhaupt halten kann …«
»Die Ruhe hier ist herrlich«, schrieb Marianne am ersten Abend an Dr. Wüllner. »Die Kollegen sind freundlich. Zwei von ihnen sehen mich – wenn sie mir begegnen – wie hungrige Hunde an. Aber keine Sorge, Fritz … ich habe früher gern Hunde abgerichtet und sie Männchenmachen gelehrt. Ich bin auf die erste Nacht in dieser Stille gespannt … seit Monaten bin ich es ja nicht mehr gewohnt, eine Nacht zu schlafen, ohne durch eine Notglocke geweckt zu werden. Im Augenblick genieße ich es, ohne Sorgen und Pflichten zu sein.«
Sie schrieb jeden zweiten Tag. Sie erholte sich prächtig.
Aber plötzlich hörten die Briefe auf. Eine ganze Woche lang kam kein Lebenszeichen aus Oberstdorf. Fast unbegreiflich nach dem jugendlichen Übermut und der Sehnsucht, die aus allen Zeilen klangen.
Wüllner bestürmte Dr. Hansen so lange, bis dieser in Oberstdorf anrief.
Es schien, als habe man darauf gewartet. Der Chefarzt war sofort am Apparat. Seine Stimme war kalt, fast feindlich.
Mit starrem Gesicht hörte Dr. Hansen an, was ihm über siebenhundert Kilometer Entfernung schonungslos mitgeteilt wurde.
In der ›See-Klinik‹ waren die Patienten dabei, eine neue Attraktion aufzubauen.
Nach dem Weggang des französischen Obersten Boncour hörte die sportlich-militärische Ära mit Gymnastik, Exerzieren und Wandern nach Generalstabskarte allmählich auf, und eine musische Welle setzte ein.
Die Initiative ging von einem mit einem Bronchialkarzinom eingelieferten ehemaligen Opernregisseur aus. Bis vor einem halben Jahr hatte der Name Jos Bertil noch von allen Plakatsäulen geprangt. Als ihm dann einige Ärzte die Wahrheit nicht länger verschweigen konnten, brach er zusammen. Das war in Buenos Aires gewesen. Er ließ sich sofort in ein Krankenhaus einliefern, aber alle ärztliche Kunst konnte den Krebs nicht mehr aufhalten. »Ein Jahr noch …«, hatten ihm die Ärzte resignierend mitgeteilt.
In der chirurgischen
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