Die Begnadigung
werden.
»Haben diese ›einsamen Rufer‹ jemals einen Krebs geheilt?« rief er. »Sie mögen alles mögliche geheilt haben … hätten sie wirklich einen echten Krebs geheilt, würden sie die Wissenschaft längst zum Einschwenken gezwungen haben.«
»Wie können sie das, wenn sie seit Jahrzehnten so behandelt werden, wie wir jetzt Doktor Hansen behandeln?!«
»Hat Hansen jemals einen Krebsfall geheilt?« rief Runkel. Er schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Fünf Fälle in anderthalb Jahren …«
»Beweise!«
»Sie liegen hier …«
»Warten Sie ab, ob in fünf Jahren noch jemand von diesem biologischen Arzt spricht! Was mit dem Messer und den Strahlen nicht zu heilen ist, das will man mit Rohkostplatten, Mandeln-Entfernungen, Spaziergängen in frischer Luft und einigen sehr umstrittenen internen Mitteln erreichen? Machen Sie sich doch nicht lächerlich, Herr Dozent!« Färber zuckte zusammen, als Runkel ihn bewußt mit Dozent anredete. »Wenn die Medizin so einfach wäre, könnte man die Kranken wie Kuhherden auf die Weide führen und sich gesund fressen und atmen lassen …«
»Was ich in der Strahlenklinik gesehen habe«, sagte Dr. Färber leise, »was ich hier zusammengetragen habe …«
»Stecken Sie es weg, legen Sie sich ins Bett, schlafen Sie und denken Sie, wie ich, daß unsere heutige Aussprache überhaupt nicht stattgefunden hat. Und morgen kommen Sie wieder. Ich habe drei Operationen für Sie. Drei Karzinome … und da ist Ihr Platz: Im Operationssaal, in der vordersten Front gegen den Krebs. Nicht in der Sauermilch-Etappe.«
»Sie verstehen mich nicht, Herr Professor«, sagte Färber heiser.
»Und Sie mich nicht … das gleicht sich aus!« Runkel nahm seine Brille ab. »Ich muß in fünf Minuten zu einer Konferenz …«
Dozent Dr. Färber verstand. Er verabschiedete sich. Seinen inneren Zwiespalt ertränkte er zu Hause in Alkohol.
Die Hochzeit Wottkes mit der kleinen Schneiderin Lisbeth Burker war ein Ereignis, an dem die ganze Klinik teilnahm. Die sechs Kinder Wottkes hatten neue Kleider bekommen. Lisbeth Burker hatte sie genäht und nachgerechnet, daß sie damit fast zweihundert Mark gespart hatte. Wottke legte dieses Geld zur ›Sonderkasse Hochzeit‹.
»Das soll ein Fest werden!« sagte er immer wieder. »Mit einem riesigen kalten Büfett!«
Ein kaltes Büfett, das war für Wottke der Inbegriff des Reichtums und der Vornehmheit. Er wollte seine Gäste mit einem kalten Büfett überraschen. Sehr zum Mißvergnügen von Fräulein Burker übrigens.
»Wozu der Luxus? Ein guter Braten tut es auch«, sagte sie. »Sparen wir das Geld für die Kinder.«
Über das kalte Büfett war mit Franz Wottke aber nicht zu reden. »Diesen Luxus leiste ich mir und damit basta!«
Die Trauung fand in der kleinen Hauskapelle der See-Klinik statt. Fräulein Burker sah zart und zerbrechlich in ihrem weißen Kleid aus … vier der jüngeren Wottkekinder trugen den langen Schleier. Dr. Hansen und Dr. Wüllner waren die Trauzeugen. Weinend saß die Verwandtschaft Lisbeth Burkers in der ersten Reihe, die Brüder und Schwestern, die jahrelang Pfennig um Pfennig gespart hatten, um ihrer kranken Schwester das Leben zu retten.
Der Pfarrer sprach von einem der wenigen Wunder, die Gott auch heute noch den Menschen schickt. Er sprach zu einer Gemeinde, die selbst täglich auf ein neues Wunder wartete, auf das Wunder ihrer eigenen Genesung …
Neben der Tür der kleinen Hauskapelle stand Dr. Marianne Pechl an der Wand. Sie hatte Stationsdienst, aber sie hatte sich weggeschlichen, um schnell den Trauakt mitzuerleben. Sie sah hinüber zu Dr. Wüllner. Er stand neben der Braut. Groß, schlank, hager fast.
Das Harmonium spielte, die Kranken sangen, inbrünstig, mit gefalteten Händen. Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn. Wer kann es gläubiger singen als Menschen, die bereits von den Menschen aufgegeben sind?
Da geschah es mit Marianne Pechl. Sie griff um sich, hielt sich am Tisch fest, auf dem die Gesangbücher und kirchlichen Nachrichten lagen. Durch ihren Körper lief plötzlich eine bleierne Müdigkeit, auf einmal hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als sich umfallen zu lassen und zu schlafen.
Und warum wurde es so finster, ging die Sonne weg, dachte sie. Mit unendlicher Anstrengung drehte sie den Kopf zum Fenster. Fahl fiel das Licht in den Raum, aber draußen leuchteten die Blätter unverändert im grellen Sonnenlicht … die jähe Verschattung, die sie beunruhigte, die vermeintliche Dunkelheit, die sie
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