Die Behandlung: Roman (German Edition)
dösten Katzen unter den Sträuchern vor sich hin und verscheuchten mit zuckenden Ohren die zahlreichen Insekten. Mein Gott, dachte er, wenn es hier irgendwo ein kaltes Bier gäbe, könnte ich für nichts garantieren .
Ein Stück weiter oben gab es linker Hand eine neue Wohnanlage – Clock Tower Grove hieß der Komplex -, und er konnte schon von weitem die Reklametafeln und die Flaggen erkennen und weiter hinten einen Betonträger, der an einem riesigen Kran hing. Auf der rückwärtigen Seite der Anlage gab es ein paar grö ßere Häuser mit Blick auf den Park. Tja, es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als dort mal vorbeizuschauen und sich zu vergewissern, ob die Häuser schon bewohnt waren. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. In den nächsten Stunden musste er noch achtzehn Adressen abklappern, und er hatte nicht die Absicht, sich irgendwo länger aufzuhalten. Falls niemand öffnete, würde er einfach wieder gehen.
Etwa zur gleichen Zeit öffnete im Haus Nummer fünf Hal die Augen und glaubte, einen Engel zu sehen. Während der folgenden Sekunden gab es für ihn nichts als diese Augen. Die süße Geometrie ihres Gesichts in einem kreisrunden Rahmen.
Benedicte?
»Hal«, flüsterte sie.
Und dann wagte er erstmals wieder zu hoffen, dass es für sie vielleicht doch noch eine Chance gab. Er versuchte, mit dem Kopf zu nicken, um ihr zu zeigen, dass er sie gehört hatte, doch er konnte nicht. Tränen rannen aus seinen Augen.
»Hal«, murmelte sie mit kaum hörbarer Stimme. »Wo ist … Josh ?«
Er bewegte die Augen zur Seite, um ihr die Richtung anzudeuten.
Sie zog den Kopf wieder aus dem Loch und versuchte, sich so in Position zu bringen, dass sie einen Blick in den Wohnbereich werfen konnte. Sie spürte die Luft in dem Zwischenraum, roch ihren eigenen Atem: Als ob ihre ungeheure Anspannung, ihr ganzes Elend sich in chemische Substanzen verwandelt hätte, die durch ihre Lunge entwichen waren. Sie schob den Kopf so tief in das Loch, bis sie einen Blick in das Zimmer unter sich werfen konnte. Ihre Augen öffneten und schlossen sich, wanderten im Kreis umher und erstarrten dann.
Josh saß mit angezogenen Beinen im Wohnbereich auf dem Boden und war an die Heizung gefesselt. Obwohl im Gesicht aschgrau, erschien er völlig gefasst und bemühte sich, das Seil aufzudröseln, mit dem er an die Heizung gefesselt war. Eine seiner Hände war bereits frei. Am Handgelenk hatten sich tiefe rot-blaue Furchen eingegraben, und am Mund hatte er einen Ausschlag von dem Klebeband, mit dem ihm der Troll die Lippen verschlossen hatte.
»Josh?«, sagte sie zuerst ganz leise, weil sie ihren Augen kaum traute. Dann lauter: »Josh!«
Er reagierte nicht sofort, war noch immer mit dem Seil beschäftigt. Es dauerte etliche Sekunden, bis er aus seiner Trance erwachte; dann sah er blinzelnd zu ihr hinauf.
»Josh!«
»M-mami?«
Ihr Kind hatte sich verändert. Der Kopf war schmal geworden, die Augen erschienen riesengroß. Der Junge sah genauso aus wie Hal – wie ein winziger, zwanzig Jahre alter Hal, an dessen Schläfen und Händen die Adern hervortraten. Armes vorzeitig gealtertes Kind. Er streckte ihr wortlos die Hand entgegen, als ob er ihr Gesicht berühren, sich von der Realität seiner Wahrnehmung überzeugen wollte. Dann ließ er die Hand wieder sinken, wandte sich abermals von ihr ab und machte sich von neuem an dem Seil zu schaffen.
»Josh!«
»Papi geht es gar nicht gut«, flüsterte er, ohne aufzublicken. »Er kann nicht sprechen.«
»Ich weiß, Liebling. Hast du was zu Trinken bekommen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein?«
»Doch – ein bisschen.« Er sah sie nicht an. Er ist schon ein richtiger kleiner Mann, dachte sie, ein großer, großer kleiner Mann.
»Geht es dir gut, Liebling? Was macht dein Bauch?«
»Fühlt sich komisch an. Ich hab Durst, Mami.«
»Ist ja schon gut, wir besorgen dir bald was zu trinken.«
»Ich wollte es wirklich nicht, Mami. Aber ich habe mir in die Hose gemacht, tut mir Leid.«
»Ach, Liebling, das macht doch nichts. Mach dir deshalb keine Sorgen.« Am liebsten hätte sie laut losgeheult – wie sie da mit blutenden Fingern völlig erschöpft im ersten Stock am Boden lag. Dieser kleine Junge, um den sie sich die größten Sorgen gemacht hatte, hockte dort unten vor der Heizung und kümmerte sich um alles. Ja, er hatte das Seil inzwischen fast aufgetrennt. Statt – wie sie – zu jammern und mit dem Schicksal zu hadern, hatte er schweigend und entschlossen die Flucht
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