Die Behandlung: Roman (German Edition)
an der Fassade des Hauses empor und drehte sich dann um und hielt Ausschau nach den Einsatzwagen des örtlichen Polizeireviers. So vergingen ein paar Minuten, als er plötzlich hinter sich in dem Haus ein Geräusch hörte. Wieder riss er den Briefschlitz auf und sah gerade noch, wie jemand aus der Küche in den Gang und dann die Treppe hinaufrannte. Die riesige Gestalt trug etwas auf dem Arm, und Caffery sah Blutspuren auf dem Boden. Er zog das Jackett aus, wickelte es sich um den Arm und rammte den Ellbogen durch die Glasscheibe, öffnete dann den Riegel, drückte die Klinke herunter, und schon stand er in dem Haus und rannte in die Küche, während hinter ihm die Tür krachend ins Schloss fiel. In der Küche war es stickig – ja, den Gestank kannte er inzwischen nur zu gut. Mein Gott, was ist hier nur passiert? Sämtliche Lichter brannten, die Vorhänge waren geschlossen, und vor ihm auf dem Boden lag eine zitternde Gestalt in ihrem eigenen Kot. Das kann nur Mr. Church sein, war Cafferys erster Gedanke. Oh, mein Gott. Church sah ihn an, schloss die Augen und wandte den Kopf ab. Lass ihn einfach, wo er ist – zuerst musst du unbedingt das Kind finden . Über ihm knirschten und ächzten die Bodendielen. Jetzt wusste Caffery, was Klare auf dem Arm gehabt hatte.
»Polizei!« Er rannte wieder in den Gang hinaus, krallte sich in das Treppengeländer und eilte – zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf. Oben auf dem Treppenabsatz blieb er stehen. Sein Herz raste.
»Hierher!« Eine Frauenstimme. »Hierher!« Er fuhr herum. Im Treppenhaus und im ersten Stock war es fast dunkel. Es roch nach Urin. Vor ihm noch eine Treppe, die weiter nach oben in die Finsternis hinaufführte. Hinter ihm eine Tür, linker Hand eine weitere Tür und rechts noch eine Tür, die in roter Farbe mit dem Wort GEFAHR bekritzelt war.
»Mrs. Church?«
»Ja, hier.« Ihre Stimme klang schwach. »Hier …«
»Bleiben Sie ganz ruhig – ich bin gleich zurück.«
»Mein kleiner Junge …«
»Keine Sorge – haben Sie noch etwas Geduld.«
Sie fing an zu schluchzen, doch Caffery hatte Dringlicheres zu tun. Alles der Reihe nach. Sie scheint so weit in Ordnung zu sein. Das Wichtigste ist jetzt das Kind . Oben im zweiten Stock knarrte auf dem Treppenabsatz ein Brett. Caffery wirbelte herum und starrte auf die dunkle Treppe. Wo ist das verdammte Licht? Er tastete die Wände ab, fand aber nichts. Wieder knarrte ein Brett, und jetzt hörte er weiter oben die Stimme eines weinenden Kindes. Der Kleine schrie nicht etwa um Hilfe, nein, er weinte, als ob er schon lange die Hoffnung aufgegeben hatte, dass jemand ihn hörte. Wie heißt der Junge noch mal? Verdammt – streng gefälligst dein Gehirn an . Caffery legte die Hand auf das Geländer und sah, dass über der Treppe an der Wand das Foto eines kleinen Jungen hing, der grinsend eine Ziege fütterte. Und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Josh .
»Josh?«, schrie er nach oben. »Josh, ich kann dich hören. Ich bin von der Polizei. Du brauchst keine Angst zu haben – ich bin gleich bei dir. Bleib ganz ruhig, okay?«
Das Weinen hörte auf. Stille. Caffery holte tief Luft und ging leise die beiden ersten Stufen hinauf. »Josh?« Oben blieb alles still – nur ein Keuchen, das so leise war, dass er es schon fast für eine Einbildung hielt. »Josh?«
Plötzlich stürzte ihm von oben aus der Dunkelheit etwas entgegen.
»Jesus …«
Er drückte sich instinktiv gegen die Wand, war aber nicht schnell genug und erhielt einen Schlag in den Magen, dessen Wucht ihn in die Tiefe riss. Er versuchte vergeblich, irgendwo einen Halt zu finden, und knallte gegen die Tür des Bades, während ihm das Telefon aus der Tasche rutschte und polternd über die Treppe ins Erdgeschoss stürzte. Wieder Stille. Er blinzelte. » Josh ?« Der nackte, angststarre Junge war rund einen Meter von ihm entfernt direkt am Fuß der oberen Treppe gelandet. Sein Mund war mit braunen Klebeband verschlossen. »Josh?«, zischte Caffery. »Alles in Ordnung?« Das Kind sah ihn mit schreckgeweiteten Augen an. Die Tränen hatten weiße Linien auf sein Gesicht gezeichnet. Auch seine Handgelenke waren mit Klebeband umgewickelt. »Komm hierher.« Caffery rappelte sich auf und öffnete die Badezimmertür. »Geh da rein. Los, schnell.« Der Junge gehorchte sofort und wankte in das Bad, als ob er betrunken wäre. Trotz des schlechten Lichts sah Caffery auf dem Rücken des Kindes eine klaffende Bisswunde. Er hätte heulen mögen. »Und nicht
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