Die Behandlung: Roman (German Edition)
…« Caffery suchte in der Jackentasche nach Kleingeld und bezahlte den Tabak. Hätte das Aspirin schon gewirkt, wäre wahrscheinlich ein Lächeln über sein Gesicht gehuscht. »Tja, so hatte ich mir das auch ungefähr vorgestellt.« Jedenfalls wusste er jetzt, wo sein Problem lag.
Benedicte war in ihrem eigenen Zimmer im ersten Stock eingesperrt. Sie erkannte die Vorhänge und die Jalousie und den Geruch des neuen Teppichbodens. Ihr Herz raste vor Entsetzen.
»Hal?«
Ist jemand hier?
»Hal?«
Keine Antwort. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch der Raum kippte einfach zur Seite weg, fing wie bei hohem Seegang an zu schaukeln. Sie stürzte bäuchlings auf das Gesicht, knallte mit der Schulter gegen den Boden und riss sich ein Stück Haut von der Wange. So lag sie einen Augenblick keuchend da und verdrehte ungläubig die Augen.
»H-A-A-A-L! Hal, um Himmels willen. Hal!«
Sie schmeckte Blut auf der Zunge. »HAL!« Sie versuchte, Richtung Tür zu kriechen, und bemerkte, dass sie nicht von der Stelle kam. Zu Tode erschrocken fuhr sie herum und sah, dass ihr Bein mit silbernen Handschellen an die Heizung gekettet war. Handschellen? Jemand muss hier im Haus gewesen sein. Nein, das ist kein Traum. Jemand ist hier im Haus gewesen. Dieser Schatten, den ich gesehen habe … Dann fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. O Gott , ihr Magen krampfte sich zusammen: die Familie Peach , der Polizist – Kann nicht schaden, die Augen offen zu halten – Josh, der kreischend im Bett gesessen und den Troll am Fenster gesehen hatte – die Familie Peach – ja, das heißt …
»Josh?« Sie warf sich nach vorn, streckte die Arme aus, zerrte an den Handschellen »JOSH! Oh, mein Gott, Josh – Hal!« Sie verdrehte den Fuß, schüttelte das Bein, stemmte ihren freien Fuß gegen die Fußleiste und versuchte sich loszureißen. »Josh!« Als sie es nicht schaffte, sich von dem Heizkörper zu befreien, verlor sie vollends den Verstand. Immer wieder warf sie sich auf den Boden und trommelte wie besessen mit den Fäusten auf den Teppich. »JOSH!!!«
Als es schließlich begonnen hatte, war das neue Jahrtausend trotzdem eine Riesenüberraschung gewesen. Über Nacht war plötzlich alles anders. Wer abends ins Bett ging, wusste nicht mehr, ob er nicht bereits am Morgen die Kündigung auf dem Schreibtisch finden würde. Auch die Mordkommission, früher immerhin eine eigene Abteilung, war jetzt dem Dezernat für Gewaltverbrechen und damit dem stellvertretenden Polizeipräsidenten von Scotland Yard unterstellt. Deshalb musste Souness neuerdings jede Woche in dem ehrwürdigen Gemäuer zum Rapport antreten. »Betstunde« nannte sie die Veranstaltungen, weil die versammelten Abteilungsleiter den Vize wie den lieben Gott anhimmelten. Wenn sie hinterher wieder in der Shrivemoor Street aufkreuzte, war sie meist schlecht gelaunt. An diesem Tag erschien sie, kurz nachdem Caffery von seinem Besuch am Donegal Crescent zurückgekehrt war. Sie trug einen ganzen Stapel Akten auf dem Arm – zuoberst ihr Mobiltelefon und ein McDonald’s-Kaffeebecher. Nachdem sie die Akten vorsichtig auf dem Schreibtisch deponiert hatte, wollte sie gerade loslegen, bemerkte dann jedoch den merkwürdigen Ausdruck auf Cafferys Gesicht. Er saß mit verschränkten Armen in seinem zurückgekippten Stuhl und sah sie fragend an. »O weh«, stöhnte sie, als sie sein Gesicht sah, »was haben wir denn jetzt schon wieder auf dem Herzen?«
»Schon was vor heute Abend?«
»Hm …« Sie zog die Jacke aus und schloss ihr Handy an das Ladegerät an. »Sehen Sie mich vielleicht deshalb so finster an?«
»Genau.« Er lächelte. »Quatsch.«
»Eigentlich wollte ich ja mit Paulina heute Abend nach Blackheath fahren – auf den Rummelplatz.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie vielleicht mit mir zum Donegal Crescent fahren. Allerdings möchte ich Ihnen nicht den Abend verderben. Aber ich glaube, es ist wichtig.«
»Hm …« Sie sah ihn nachdenklich von der Seite an, schnalzte ein paar Mal mit der Zunge und kratzte sich am Kopf. Schließlich seufzte sie und machte sich an ihrem Hosenbund zu schaffen. »Na gut – immer im Dienst, was? Ich geh nur mal schnell pinkeln, dann ruf ich Paulina an und stehe zu Ihrer Verfügung.«
Benedicte lag erschöpft und zitternd am Boden. Sie konnte kaum glauben, dass sie noch atmete. Tränen strömten über ihr Gesicht – in ihr Haar. Immer wieder hatte sie sich so verzweifelt auf den Boden und gegen die Heizung geworfen, dass sie sich an
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