Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
schon gar nicht bei Cedric. Ich sollte in so vielen Fällen die Kontrolle behalten können.“
„Was denken Sie: was würden Sie denn anders machen, wenn Sie stärker wären? Was genau würden Sie denn kontrollieren wollen?“ fragte der Therapeut.
„Sehen Sie, ich kann Ihnen nicht mal das genau sagen. Aber es ist doch so wie in der Evolution – nur die Stärksten kommen durch. Die Schwachen werden von der Evolution aussortiert.“ Lynn's Tonfall klang trotzig.
Dr. Wögerer schob sich die Brille weiter die Nase hinauf, sah sie an und meinte: „Stimmt schon, aber was genau ist denn Stärke? Wie definieren Sie das? Als vor 65 Millionen Jahren ein Asteroid die Erde traf, starben vermutlich die Dinosaurier aus. Diese waren, vor allem die Fleischfresser unter ihnen, groß und stark, sie hatten Millionen von Jahren auf der Erde geherrscht. Und dennoch ging ihre Zeit zu Ende. Die kleinen ersten Säugetiere, die eigentlich total hilflos waren, überlebten gerade aufgrund ihrer geringen Größe und vor allem ihrer Anpassungsfähigkeit.
Stärke ist immer relativ, es kommt darauf an, wie man das definiert. In Ihnen kann viel Stärke schlummern von der Sie gar nicht wissen, dass sie da ist. Das werden wir aber noch gesondert besprechen.
Was mich im Moment noch besonders interessiert, ist das Verhältnis zu Ihren Eltern.“
„ Meine Eltern? Was haben die denn damit zu tun?“ wollte Lynn wissen.
„Nur so, reine Routine“ erklärte er.
„Mein Vater hat uns verlassen als ich noch klein war. Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Meine Mutter ist total anders als ich, wir stehen uns nicht sehr nahe.“
„Warum das? Gibt es Streit?“ hakte er nach.
„Nein, eigentlich keinen richtigen Streit. Ich glaube, sie ist enttäuscht, dass ich nicht so geworden bin wie sie sich das vorgestellt hat. Ich sollte in meinem Alter schon Mutter von mindestens zwei Kindern sein, hätte ein abgeschlossenes Studium vorweisen müssen, hätte in der Lage sein sollen meinen Ehemann, das heißt Ex-Ehemann, so zufriedenzustellen, dass der Ärmste nicht fremdgehen muss. Außerdem hätte ich natürlich, wenn so etwas schon passiert, dezent darüber hinweggehen müssen und mich aufgrund dessen, was ich in der Ehe falsch gemacht habe, selbst geißeln müssen. So in der Art läuft unsere Beziehung. Wir sehen uns ab und zu, ich mache meine Pflichtbesuche und versuche zwischenzeitlich nicht allzu viel über sie nachzudenken.“
„Das Nachdenken darüber wird Ihnen aber auf Dauer nicht erspart bleiben. Jeder Mensch trägt seine Vergangenheit – und dazu zählen natürlich auch die Beziehungen zu den Eltern – sein Leben lang mit sich herum. Bei manchen ist das nur ein kleines Päckchen, bei anderen füllen die Probleme der Vergangenheit problemlos eine große Truhe. Auch wenn man versucht, diese Truhe mit Schlössern zu sichern, damit der Inhalt nicht herauskommt – diese Tatsachen finden einen Weg. So leicht wird man das nicht los. Man muss sich damit konfrontieren und es bearbeiten, um es zurücklassen zu können, sonst wird die Last immer schwerer. Das ist natürlich nicht einfach, im Moment scheint den Menschen das Verdrängen meistens als der einfachere Weg.“
Lynn wuss te nicht, was sie darauf sagen sollte. Verdrängung war ihr bisher als die einzige praktikable Lösung für das ganze Leben erschienen. Ihr fehlte die Kraft, sich damit zu befassen. Sie bezweifelte auch, dass sie es mit fremder Hilfe schaffen würde.
„So, unsere Zeit für heute ist vorbei. Wann sehen wir uns wieder?“ Dr. Wögerer nahm seinen Kalender zur Hand. Sie vereinbarten einen Termin für Montag am späten Nachmittag nach der Arbeit und Lynn schüttelte seine Hand. „Vergessen Sie nicht, dass wir am Anfang sozusagen nur eine Art Bestandsaufnahme machen, damit ich mir einen Überblick machen kann. Zu den einzelnen Problemen im Detail kommen wir dann noch.“
„Gut. Ich habe von diesen Dingen keine Ahnung, ich verlasse mich da ganz auf Sie“ sagte Lynn, verabschiedete sich und ging. Am Nachhauseweg überlegte sie, ob das wirklich etwas bringen würde. Gerade billig waren die Sitzungen ja nicht. Lynn hatte zwar etwas gespartes Geld, das sie eigentlich für eine Wohnungsrenovierung hatte verwenden wollen, das konnte sie aber für die Therapie verwenden. Blieb nur die Frage, ob sie diese überhaupt brauchte. Nur weil Therese dieser Ansicht war, hieß das ja noch lange nicht, dass es stimmte.
Ihr
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