Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
blieb noch genug Zeit, um sich auf den Besuch bei ihrer Mutter vorzubereiten. Lynn hatte immer noch kein Geschenk, also versuchte sie auf dem Weg etwas Passendes zu finden. Als sie an einer Boutique vorbeikam, sah sie in der Auslage einen fliederfarbenen Seidenschal, der soweit sie sich an die Garderobe ihrer Mutter erinnern konnte, ganz gut zu mehreren ihrer Kleidungsstücke passen würde. Sie erstand den Schal, kaufte außerdem noch einen Bogen Geschenkpapier und eine Geburtstagskarte und verpackte das Ganze zu Hause. Lynn drehte die Karte, auf der ein Blumenstrauß abgebildet war und „Happy Birthday“ in bunten Buchstaben aufgedruckt war, in ihren Händen hin und her. Es konnte doch nicht so schwer sein, irgendetwas Nettes für ihre Mutter darauf zu schreiben. Ihr fiel nichts ein, gar nichts. Also kritzelte sie einfach „Alles Gute zum Geburtstag“ darauf. Sie wusste nicht einmal genau, der wievielte es war. Egal. Frauen fortgeschrittenen Alters waren ohnehin nicht sehr glücklich, wenn man sie darauf hinwies, wie alt sie waren.
Lynn dachte an das Gespräch mit Dr. Wögerer. Inwiefern war das Verhältnis zu ihren Eltern, respektive zu ihrer Mutter relevant für ihre momentane Situation? Die Bindung zu ihrer Mutter war schon von Anfang an nicht sehr von positiven Emotionen geprägt gewesen. Lynn hatte schon als Kind nicht den Wünschen ihrer Mutter entsprochen. Maria Monahan war schon immer sehr sportlich und aktiv gewesen, galt rundum als tatkräftig und willensstark. Lynn naschte immer gerne und war als Kind schon pummelig gewesen. Ihre Mutter schien das immer als persönliches Versagen zu sehen. Auch war Lynn weder in der Schule noch im Beruf die Koriphae gewesen, die ihre Mutter gerne gehabt hätte. Ihr Versagen in der Ehe und die Kinderlosigkeit war nur der Schlusspunkt in einer langen Reihe von Misserfolgen gewesen.
Lynn nahm sich vor, diese Punkte im Detail noch einmal mit Dr. Wögerer zu besprechen, vielleicht brachte es ja wirklich etwas. Das Handy klingelte. Scheiße, Martin war dran.
„Na Süße, hast du den Brief meines Anwaltes schon bekommen?“ Lynn hatte keine Ahnung, sie war in den letzten Tagen viel zu abgelenkt gewesen, um die Post zu öffnen. Sie hasste es, wenn er sie Süße nannte. „Nein, hab ich nicht.“ war alles, was sie dazu sagte. „Ich kann dir das schon vorab sagen, worum es geht. Mein Anwalt hat herausgefunden, dass es durchaus eine Möglichkeit gibt, mir meinen Anteil an dem Geld zu holen. Der steht mir auch zu, vor allem, wenn man bedenkt, dass ich es einige Jahre mit dir ausgehalten habe. Das ist doch eine gewisse Entschädigung wert, sollte man meinen oder?“ Lynn konnte sein hämisches Grinsen förmlich durch das Telefon wahrnehmen. „Du wärst ohne mich nichts gewesen, gar nichts. Ich habe mir jahrelang Dein weinerliches Gejammer angehört, habe mit angesehen wie du dir ein Kilo ums andere hinaufgefressen hast. Du warst weder eine ansprechende Sexualpartnerin noch eine gute Ehefrau, nicht mal zur Haushälterin hast du getaugt.“
Lynn fing an zu würgen vor Wut. Ihr Anwalt hatte sie extra darauf hingewiesen, sich nicht provozieren zu lassen. Sie verkniff sich eine entsprechende Antwort und legte kommentarlos auf. Sollte das Arschloch doch einfach tot umfallen. Sie musste sich beruhigen, so aufgelöst konnte sie sich bei ihrer Mutter nicht sehen lassen.
Nach einer ausgiebigen Dusche fühlte sie sich etwas besser. Sie zog sich an (etwas das ihre Mutter ihr irgendwann einmal geschenkt hatte) und schnappte sich das Geschenk und die Karte. Dann machte sie sich auf den Weg, ihre Mutter hatte die Angewohnheit sehr früh zu Abend zu essen.
Als Lynn bei ihrer Mutter eintraf, öffnete diese die Tür in ihrem unvermeidlichen geblümten Hauskleid. Lynn hatte nie verstanden, warum jemand so etwas Scheußliches trug aber sie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Mutter zu Hause jemals ohne diese Kittelschürze gesehen zu haben. Die beiden Frauen umarmten sich pflichtschuldigst, dann übergab Lynn das Geschenk und die Karte. Ihre Mutter packte den Schal aus. „Oh, eine schöne Farbe! Passt gut zu einigen meiner Sachen. Obwohl der Schal ja schon ein wenig dünn ist, jetzt kommt der Herbst und ich werde damit frieren. Er hätte ruhig ein bisschen wärmer sein können.“ War ja klar, dass sie ein Haar in der Suppe finden würde. Lynn versuchte weiterhin zu lächeln, sah aber im Spiegel, dass ihr Mund eher verzerrt wirkte. Also ließ sie es ganz
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