Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
Zeit passiert ist! Nein, im Ernst, das war sehr eigenartig – ich hatte das deutliche Gefühl von etwas Bösen, verstehst du – so richtig Üblem.“ Lynn versuchte ihrer Freundin das Gefühl zu beschreiben „So als wäre da etwas, das unter meine Kopfhaut kriecht, das sich unter meine Haut schiebt, hm – das klingt blöd, nicht wahr? Aber ich hatte auf einmal richtig Angst.“
„Soll dieser Eindruck nicht entstehen, wenn man sich all diese Knochen da unten ansieht?“ meinte Therese und rührte mit einem kleinen Löffel in dem Milchschaum ihres Kaffees um. Genießerisch steckte sich ein wenig vom Milchschaum in den Mund und fragte: „Wohl wieder mal zu viele Schauergeschichten gelesen, oder?“ Lynn schüttelte den Kopf: „ Sollte man glauben, und ja – ich weiß, dass ich dafür eigentlich viel zu feig bin... musst du mir nicht extra sagen – aber das hier war wirklich etwas anderes, so etwas ist mir noch nie passiert. Macht nichts, ist ja vorbei... möchtest du noch einen Kaffee?“
Die beiden Frauen bestellten noch einen Kaffee, nicht ohne den Tortenwagen der vorbeigeschoben wurde genau zu inspizieren und sich je ein Stück Sachertorte zu bestellen. Therese aß mit Genuss, Lynn mit einer ordentlichen Portion schlechtem Gewissen. „Das hätte ich mir jetzt auch sparen können“ murrte sie, nachdem sie den letzten Bissen geschluckt hatte. „Ach lass das jetzt“ lachte Therese „man muss sich auch mal etwas gönnen, spätestens nach dem Telefonat mit Martin hast du dir das redlich verdient“.
Lynn war nicht so ganz ihrer Meinung, schwieg aber. Therese würde nie verstehen, wie es war, wenn man sein Essverhalten nicht im Griff hatte. Lynn aß zuviel, das war schon immer so gewesen. Um das viele Essen wieder heraufzuwürgen war sie immer zu feig gewesen. Sie hatte schon oft über die schlimmen Konsequenzen von Bulimie gehört. Ihr Körper kannte kein Sättigungsgefühl, wo andere schon lange aufgaben, konnte Lynn problemlos noch weiter essen. Meistens war der Auslöser Langeweile, wenn sie wieder mal alleine in ihrer Wohnung saß.
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Therese warf sich ihre Jacke um die Schultern, Lynn hingegen war froh, dass die Hitze nachgelassen hatte. Sie benötigte nur selten eine Jacke oder einen Mantel gegen die Kälte, trug aber oft trotzdem welche, um ihre Rundungen verschwinden zu lassen.
Therese und Lynn verabschiedeten sich vor dem Café „Ich rufe dich noch diese Woche an“ versprach Therese „falls es noch Ärger mit Martin gibt, melde dich einfach bei mir, dann treffen wir uns“. Sie winkte und lief Richtung Ring um ihre Straßenbahn zu erwischen. Vermutlich musste sie sich beeilen, um den Babysitter ihres dreijährigen Sohnes abzulösen. Therese war Alleinerzieherin und hatte nicht oft die Gelegenheit, abends auszugehen.
Trotzdem beneidete Lynn ihre Freundin. Therese wurde gebraucht, ihr Sohn wartete zu Hause auf sie. Lynn hatte nie das Gefühl, gebraucht zu werden. Weder ihre Mutter, noch Martin hatten sie gebraucht. Lynn dachte, es würde ihr eine Art Daseinsberechtigung bescheren, wenn jemand sie brauchen würde. Sie hatte das schon öfter mit Therese diskutiert. Erstens, hatte Therese ihr erklärt, benötigte sie keinerlei Daseinsberechtigung, ihre Existenz reiche aus. Außerdem sei es eine Form der Abhängigkeit, wenn man jemanden brauche. Zuneigung in welcher Form auch immer sollte eine freie Entscheidung sein, die man Tag für Tag neu treffen müsse. Therese hatte im Prinzip Recht, Lynn wusste das. Es reichte jedoch nicht, um dieses Wissen auch emotional umzusetzen.
Lynn überlegte wie sie am besten nach Hause fahren sollte und beschloss, sich den Luxus eines Taxis zu gönnen. Zu spät fiel ihr ein, dass sie Therese eigentlich zu Hause hätte absetzen können, aber von ihrer Freundin war weit und breit nichts mehr zu sehen. Sie steuerte den nächsten Taxistandplatz an. Unterwegs wich sie einem Betrunkenen aus, der ihr entgegen kam und sie anscheinend ansprechen wollte. Sie beschleunigte ihre Schritte und bevor er wusste wie ihm geschah, huschte sie zum nächsten Taxi, öffnete schnell die Tür und ließ sich auf den Rücksitz fallen.
Lynn nannte dem Fahrer ihre Adresse im neunzehnten Bezirk, lehnte sich zurück und entspannte sich ein wenig. Sie war über sich selbst sehr verärgert – wenn schon ein harmloser Betrunkener imstande war, sie aus der Fassung zu bringen – natürlich musste das Martin, der sie
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