Die Bekenntnisse der Sullivan-Schwestern
Es hatte sich eine Menge in mir aufgestaut und es beschloss, durch meine Augen nach draußen zu kommen.
Dass der Sopran auf der Empore »Ave Maria« sang, machte es auch nicht besser. All diese Bilder schossen mir durch den Kopf, es war, als würden sich die Höhepunkte meines Lebens kurz vor dem Tod vor meinem inneren Auge abspulen: Takeys kleine Geste am Ende des Wintermärchens , wie Daddy-o »Die Nacht vor Weihnachten« vorträgt, Norrie, wie sie in ihrem weißen Debütantinnenkleid die Charles Street hochrennt, Sassy, die auf ihrem Bett schluchzt, Wallace in seinem Sarg …
… ich, wie ich halb nackt während der Aufführung von Guys and Dolls von der Schulbühne gezerrt werde, und der verletzte Ausdruck auf Bibis Gesicht …
… und Du, Almighty, wie Du in Deinem schwarzen Samtkleid Weihnachtslieder singst. Du und Mamie und Bibi und ich.
Die Glocke schlug Mitternacht. Nun begann offiziell der erste Weihnachtsfeiertag. Alle erhoben sich, um Joy to the World zu singen. Es hätte ein glücklicher Augenblick sein sollen. Aber ich stand dort in der Kathedrale, in der zahllose Hochzeiten und Taufen und Beerdigungen stattgefunden hatten – Zeremonien für Ginger und Daddy-o und Wallace und uns alle –, während die Junkies verträumt vor sich hin lächelten und die heilige Johanna mich vom Buntglasfenster herunter ansah … Ich spürte, wie sich das Gewicht der Geschichte auf mich herabsenkte. Wirklicher Geschichte. Der Art Geschichte, die man nie richtig begreifen kann.
Ich habe die Familiengeschichten alle in den falschen Hals bekommen. Das ist die einzige Erklärung. Vielleicht schreibt irgendwann jemand meine Lebensgeschichte auf und missversteht alles. Das würde mir recht geschehen. Nicht mal ich begreife richtig, was ich denke oder warum ich die verrückten Dinge tue, die ich tue. Wie soll es erst jemand anderes verstehen?
Ich war arrogant, Almighty.
Als mir die Tränen über die Wangen kullerten, nahm Sassy meine Hand, und mein Herz schwoll ins Unermessliche an, wie das vom Grinch. In diesem Moment liebte ich jede Person hier in der Kirche, jede Person in der Stadt, auf der ganzen Welt, selbst Schwester Mary Joseph. Selbst Dich, Tyrannin. Der heilige Augustinus hat behauptet, wir könnten Gott ebenso wenig verstehen wie ein Kind, das mit einer Muschel Wasser in ein Loch am Strand zu füllen versucht. Ich war dieses Loch, winzig, und je kleiner ich mich fühlte, umso mehr füllte ich mich mit Liebe. Ich hatte Angst zu platzen. Es tat weh. Voll mit Liebe zu sein klingt wie etwas Gutes, aber das bedeutet nicht, dass es nicht wehtut.
Zwölf
myevilfamily.com
Die Wahrheit über mich
Es ist Heiligabend. Beziehungsweise sehr früh am ersten Weihnachtsfeiertag. Ich komme gerade von der Mitternachtsmesse zurück. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich mit Religion nicht viel am Hut habe. Ich habe im Religionsunterricht verkündet, es gebe keinen Gott. Ich wurde wegen Gotteslästerung von der Schule suspendiert.
Aber während ich heute Nacht in der Kathedrale saß, ist etwas mit mir passiert. Es war keine religiöse Erleuchtung oder so was in der Art. Aber mir ist klar geworden, dass ich zwar mit allen hart ins Gericht gegangen, mit mir selbst jedoch sehr nachsichtig gewesen bin. Und das ist nicht fair. Deshalb kommt hier, wo doch die Wahrheit regiert, nun die Wahrheit über mich.
Ich bin Almighty ähnlicher, als ich mir eingestehen möchte. Ich bin ihr SEHR ähnlich. Es ist erschreckend.
Ich habe das ganze Jahr eine Fehde mit Bibi d’Alessandro ausgetragen. Ich habe ihr vorgeworfen, angepasst und oberflächlich zu sein. Ich habe ihrer neuen besten Freundin Tasha vorgeworfen, das Beta zu sein, das Alpha-Bibi hinterherrennt.
Ich war sauer auf sie. Denn früher war ich Bibis beste Freundin. Bis zum Großen Striptease.
Letztes Jahr führte unsere Schule als großes Frühjahrsmusical
Guys and Dolls
auf. Bibi bekam eine tolle Rolle – Miss Adelaide, die Primaballerina. Ich bekam keine Rolle. Wenn ich singe, klingt es, als ob eine Eselin schreit. Deshalb wurde ich als Bühnenhelferin eingeteilt.
Bei der Premiere lief das Stück super. Bibi und die anderen Tänzerinnen waren für ihre große Nummer,
Take Back Your Mink
, auf der Bühne. Wo sie eine Art Fake-Striptease hinlegen. Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, aber ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, auch auf dieser Bühne zu stehen. Also sprang ich hinauf und zog mich ebenfalls aus. Allerdings trug ich nicht wie die anderen
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