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Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Die Belagerung der Welt - Romanjahre

Titel: Die Belagerung der Welt - Romanjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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ich Maria gleich in ein unantastbares Heiligenbildchen verwandelt oder Ex-voto-Bild. Bin ich davongespurtet? Als ich neulich den ergreifenden Film von Zurlini nach Buzzatis Buch Die Tatarenwüste sah, dachte ich, in der Figur des Maria-Gegen
spielers könnte ich nicht nur den Fortsetzer des Frank aus der Forelle , sondern auch etwas von jenem blutjungen Offizier einbringen, der in der Festung, in Erwartung der Angreifer, nicht nur seine Jugend, sondern sein Leben verspielt, verliert. Auch ein Novize. Das Wort könnte ein Schlüsselwort sein.
    Das frühe freiwillige Ausscheiden aus dem Leben. Gilt für den Offizier und warum nicht für den Mariaversehrten? Warum nur die »Unbeflecktheit«? Ging mein Held gleich ins Kloster (nach der empfangenen Ohrfeige im »Weltall«)?
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    Bei meiner meist pauschalen und übertriebenen Abneigung gegen (schnieke) Erzählliteratur, die ich gleich als Unterhaltungsware zu schmähen die Tendenz habe (selbst wenn es sich denn um ein Buch wie Der menschliche Makel von Philip Roth handelte), pflege ich als Gegenargument oder Mangel die poetische Qualität und entsprechende Sprachmagie anzuführen, weil bei wirklich großer Literatur das Hinreißende, Berückende, das eigene Innere Umkrempelnde aus dieser Region oder Macht quillt, ja, und nun fühle ich mich als Leser in diese tiefe Richtigkeit versetzt und gleichzeitig in einen Erinnerungshof, der bis zu den Ursprüngen hin reicht; es ist wie Flügel, wie Brandung, es ist der uralte Chor, der begleitend anhebt; ich kann es nicht sagen, mag sein, daß es um eine Resonanz aus dem großen Buch der Bücher geht. Große Literatur, und mag sie noch so modern oder besser innovativ und infolgedessen auch ketzerisch sein, besitzt jenen Echoraum, ich will damit sagen, sie kommt von weither und aus der Tiefe der Zeit, wenn sie auch gegen die Mauer des Jetzt Sturm läuft. Wenn nicht, ist sie flach, unterhaltsame Kolportage oder Abwicklung und demgemäß geheimnislos. Alle bedeutenden modernen Bücher atmen diese Abkunft, oder täusche ich mich?
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    Wenn ich das Datum über das Blatt tippe oder setze, könnte mir schlecht werden beim Gedanken, daß ich bis anhin, sozusagen das ganze Jahr total unproduktiv habe verstreichen lassen, woran die Drohung des baldigen Auszugs aus der Wohnung ebenso wie der Rattenschwanz unerklärlicher Krankheitsanfechtungen, darunter eine bleierne Müdigkeit, Schwächung? beteiligt sein mögen. Doch nun wird sich das bald ändern, habe ich doch, wenn ich mich nicht irre, ein Schreibatelier in Aussicht und dies ganz in der Nähe der neuen Wohnung Rue Campagne Première; bei dem verdammten zähen Nichtstun bin ich seltsamerweise nie ganz in Verzweiflung gefallen, das bleierne Loch rubrizierte in meiner inneren Buchhaltung einfach als Arbeitsausfall oder so ähnlich.
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    Möchte wissen, was mich in die erwähnte Produktionslosigkeit einkerkert. Ob es die Angst vor dem zusammen mit dem Wohnungswechsel »drohenden« neuen Kapitel und Lebensantritt ist? Mir kommt vor, ich befände mich in einer Art Tiefschlaf oder doch somnambulen Zustand und sehe mir beim Zeitverbringen und Zeitverlieren wie einem nicht weiter interessanten Anderen zu. Vielleicht holt mich auch nur die Tatsache des Alters auf schockierend lähmende Weise ein. Das Gorgonenhaupt des Alters. Dabei kann ich im Umgang mit anderen durchaus unbeschwert funktionieren, so gestern bei der Abendessenseinladung und Abendverbringung mit Colette und Jean-Baptiste. Oder täusche ich mich?
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    Seit kurzem höre ich wieder Musik, klassische, wie in meiner musiktrunkenen Jugend, Klaviermusik, Konzerte. Jetzt eben Horowitz, hochbetagt, wunderbar, Engelstöne. Dach
te wieder, die Musik sei die höchste der Künste, nur hier fließt der göttliche Atem oder Offenbarung (Verkündigung). Letzthin über das Starwesen der Interpreten, diese oft eitlen Statthalter (Musikbesitzer), gewettert. Sie sind ja nicht die Schöpfer, dachte ich; führen sich auf wie Halbgötter. Diven. Und nun sage ich mir, übrigens auch angeregt durch das Beispiel meiner Schwester, die eben eine CD aufgenommen und in bescheidenstem Rahmen in Umlauf gebracht hat; sage mir, die besten der Interpreten sind wie die chassidischen Gläubigen, die lebenslang den heiligen Text auslegen. Da sind sie, über das Instrument gebeugt, und dringen mit den

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