Die Belagerung der Welt - Romanjahre
übertreten. Was mir bei dem Bolognini-Film aufging (und der jugendliche Liebhaber sträflich übersieht), ist der soziale Hintergrund, der die Mädchen auf die schiefe Bahn schickt: die Not, womöglich verbunden mit Unterstützungspflichten. Zum sozialen Hintergrund gehört die mangelnde oder fehlende (verpaÃte) Schulausbildung, die Unwissenheit. Und das einzige Gut, das auf dem Arbeitsmarkt einzubringen ist, sind Jugend und Schönheit. Der ver
liebte jugendliche Freier sieht nur letzteres, den Hintergrund will er nicht wissen.
Für ihn ist die Prostituierte eine Projektionsfläche, eine Spielfigur. Er setzt alles daran, sie in eine Liebende zu verwandeln. Ja, er will Liebe erwecken und Liebe erleben. Mag sein, daà das Mädchen bis zu einem gewissen Grade mitspielt, aus, sagen wir, romantischen Gründen, nach einer Weile aber mit echten Hoffnungen, der malavita entgehen zu können.
Nie habe ich Maria unter solchem Gesichtspunkt gedacht, ich meine die Geschichte, wenn es denn eine sein oder gewesen sein sollte.
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Bin eben von der groÃen Ingres-Ausstellung im Louvre zurück.
Ich verehrte Ingres immer schon, und zwar als den erotischsten, den schönsten Frauenkörperdarsteller in der Kunst überhaupt. Was war denn die ununterbrochene Frauenschönheitsreverenz in den Aktmalereien anderes als Begehren schürende Verherrlichung der weiblichen Hügellandschaft â als die fleischgewordene Schönheit schlechthin, als Berückung, Traum, Trost etc.? Und der Traum zielte ja nicht einfach auf einen Kniefall, minnesängerischen. Ingres ist der subtilste, erotischste Frauenleibbildner, so in der »Quelle«, im »Türkischen Bad«, in »Die groÃe Odaliske« etc. Er ist Klassizist, aber er geht, zumal in seinen Porträts, darüber hinaus, hier greift er vor bis zu den Realisten, nähert sich einem Manet, er ist nicht Kolorist, sondern bleibt auf Lokalfarben und einen Schwarzton eingestimmt, allerdings mit kostbaren Farbakkorden in seiner Dunkelskala; und erstaunlich wie die Kleidung, das modische Gehabe als Stofflichkeit mitspricht und auÃerdem das Psychologische, die Charaktere. Er wird zum realistischen Beobachter, Beobachter
des Welttheaters (wenn auch unter AusschlieÃung des niedrigen Volkes), ein Gesellschaftsmaler. Hier steht er bei aller Qualität unter einem Goya, der in seinen besten Porträts von einer halluzinatorischen Sensibilität und schlechthin magischen malerischen Zauberei fortgerissen wird. Ingres ist nicht revolutionär, er ist kein Wegbereiter, er ist Repräsentant seiner Epoche, ein Repräsentant seiner Klasse oder eben der tonangebenden Schicht, als Künstler ein verfeinerter Erbe und Fortsetzer, nicht dämonisch wie Goya, kein Zeuge wie Daumier mit dem Hohn oder der Entlarvung des Richterblicks. Er ist ein in einem idealistischen Gebäude fast schon autistisch Eingesperrter, an dem das Brodeln des Zeitgeistes und der künstlerischen Revolution abgleitet, er hat sich schon sehr bald in eine Zeitlosigkeit zurückgezogen und in alabasterne Szenen gehüllt, und wären nicht die erotischen Frauenkörper, diese herrlichen Verführungen, man könnte ihn für einen innerlich Exilierten, von seiner Gegenwart völlig Unberührten, einen Unrührbaren oder eben geistig Verirrten halten, starke Worte, es ist einfach nichts vom Puls seiner Epoche spürbar, Ingres muà in einer idealistischen Kunstvorstellung aufgegangen sein oder in einer imperialen Verklärung. Nur als Porträtist zeigt er Krallen. Welch ein Gegensatz zu Delacroix und den Vorbereitern des Realismus.
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Der frühe Blick
Gut, ich hatte keine Auflehnungsphase, kein Kräftemessen mit dem Vater, nichts von Ablösung. Ich hatte aber auch kein väterliches Vorbild, der Vater war wie ein stiller Gast, eine Toleranzfigur, Fremdling oder Ausländer, ich sage Ausländer, weil nicht von dieser, ich meine, von unserer (bernischen) Welt, und seine Welt, sein Herkommen blieb pure Fama, es gab ja keine Angehörigen von seiner Seite, die ihn
uns nähergebracht hätten, indem sie ihn in einen sicht- und erlebbaren Umkreis gebettet hätten. Auch sein Beruf ging aus der auf dem Briefkasten mit »Untersuchungslaboratorium« mehr verschwiegenen als definierten Bezeichnung nicht hervor; ich wuÃte natürlich, daà er Chemiker war, doch was tat er da oben in seinem Laboratorium? Wo kam er
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