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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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bittet am Vorabend des Reisetages Schwester Oberin im Stiegenhaus mit aufgehobenen Händen: »Schwester Oberin, um Gottes willen, lassen Sie mich da! Ich kann nicht fort! Lassen Sie mich da sterben!« – Schwester Oberin weint. Fritz Harlacher gibt zwei Tage vor dem Abschied Geld für eine hl. Messe in der Meinung, dass er bleiben darf. Ein anderer gibt ein Messstipendium um eine gute Sterbestunde. (…)
    Auffallend für die Schwestern war, dass so viele Pflegebefohlene vom baldigen Sterben sprachen, obwohl ihnen nur die Versetzung in eine andere Anstalt mitgeteilt worden war, kein Wort vom Sterbenmüssen. Ottmar Gaßner äußerte so bestimmt: »Wenn ich draußen bin, bin ich in drei Tagen tot.« Als die Pfleglinge zwischen den Schulterblättern gezeichnet waren – diese Forderung war bei Ankündigung der Verlegung nach Kaufbeuren gestellt worden –, sagte Anton Kramer: »So, jetzt sind wir gezeichnet zum Schlachten!« Das Wort schnitt den Schwestern durch Mark und Bein.
    Es kam unter Schmerzen der Scheidetag, der 19. November, das Fest der hl. Elisabeth. Beim Wecken zu früher Stunde sagte Gottfried Ehinger: »Heute ist ein schwerer Tag! Muss es jetzt wirklich sein?« Nach dem letzten Morgengottesdienst und einem guten Frühstück versammelten sich die Scheidenden und helfenden Schwestern an der Pforte. Gesprochen wurde nicht viel.
Von den 150 Pfleglingen, die an diesem Tag aus Ursberg fortmussten, wurden 120 ermordet. Von den in dem Bericht genannten acht Männern überlebte einer, die anderen Deportierten wurden alle am selben Tag, am 4. Juni 1941, in der Gaskammer von Hartheim erstickt: Jakob Speiser, *1913; Johann Haas, *1907; Dominikus Harnauer, *1873; Friedrich Harlacher, *1877; Ottmar Gaßner, *1910; Anton Kramer, *1897; Gottfried Ehinger, *1879. [114]  
Ein weiterer Abtransport von Pfleglingen aus Ursberg verlief dramatischer. Darüber berichtete eine Schwester 1946.
    Manche haben sich hingehängt an die Schwester, die Schleier abgerissen. Das war furchtbar. Wenn man sich auch noch so beherrscht hat. Die haben direkt geahnt und gemerkt, was los ist. Wir haben ihnen die Sakramente geben lassen. Es war fürchterlich, unbeschreiblich. Bei den Mädchen war es ganz arg. Die fühlten instinktiv, dass ihnen nichts Gutes bevorstand. Die haben direkt geschrien und geweint. Die Pflegerinnen und Ärzte hatten selbst geweint, ob der Szene des Abschieds. Das war was Herzzerreißendes. Die meisten hatten es, wenn auch nicht gewusst, doch geahnt, was da kommen könnte. Schon der gewalttätige Abschied von der Anstalt, wo sie doch daheim waren. Der Albert B. ist in die Knie gesunken. Den haben wir direkt aufheben müssen. Die meisten haben geweint. Der A. hat geschrien. Der kleine 15-jährige St. hat von dem Moment an keinen Bissen mehr gegessen, war leichenblass. Der hat kein Wort mehr gesprochen, einen nicht mehr angeschaut. [115]  

Später »wird man den Schleier dieser Anstalt lüften«
Walter Lauer wurde am 22. Januar 1922 in Wiesbaden als nichteheliches Kind geboren. Später heiratete die Mutter den Gärtner Emil Johann Lauer, der den Jungen adoptierte. Im Alter von sieben Jahren bekam Walter epileptische Anfälle, die im Lauf der Jahre häufiger wurden. Er lernte Lesen und Schreiben. Mit 16 Jahren gaben ihn seine Eltern in die Heilerziehungs- und Pflegeanstalt Scheuern in der Nähe von Koblenz, wo Walter in der Schusterei beschäftigt wurde. Von dort wurde er am 18. März 1941 in die sächsische Anstalt Arnsdorf verlegt. Wie das vor sich ging, schrieb Walter an seine Eltern:
    Am 18ten kamen drei hohe Herren in unsere Werkstatt und blieben auch an meinem Werktisch stehen und frugen mich einiges. Nachher hieß es, wasch dich und zieh dich um, du kommst woanders hin. Dann wurde ich im Krankenhaus Scheuern gezeichnet (gekennzeichnet). Ich und noch mehr junge Männer sind dann zum Zug geführt worden. Es war eine sehr lange Fahrt.
Dieser und die folgenden Briefe erreichten die Eltern nicht, weil die Anstaltsleitung sie in den Akten verschwinden ließ. Doch wollten die Eltern ihren Sohn zurückhaben. Sie unternahmen alles Mögliche, vor allem Walters Mutter, der Vater stand im Krieg. Der stellvertretende Direktor der Anstalt Arnsdorf, ein harter Verfechter der Krankenmorde, teilte der verzweifelten Mutter mit, ihr Sohn habe »in der Schuhmacherei in Scheuern so gut wie nichts geleistet« und eine Entlassung sei nicht angängig. Die Mutter, Katherine Lauer, beschwerte sich daraufhin beim

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