Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
hinter diese Eisentür.
Ich werde über einen Hof in ein großes Gebäude geführt. Es geht eine Treppe hoch, und da erst bemerke ich, dass wir uns in einem Zuchthaus befinden. Alle Fenster sind vergittert. Zwei Kinder, die mit mir im Bus waren, sind schon da. Wir sind drei Kinder, die diesen Transport überlebt haben. [1]
Die meisten haben »geahnt und gemerkt, was los ist«
Überlebende des katholischen Pflegeheims Taufkirchen bei München berichteten 1945, wie sie sich mit Hilfe der Ordensschwestern versteckten, als die Busse der Aktion T4 anrollten, was sie beim Abtransport anderer Pfleglinge empfanden, was sie sahen, hörten, dachten und fühlten. Die Patientin Anna O. erzählte:
Wir haben immer so Angst gehabt. Wir haben bissel was gehört, dass die SS die Leut’ ins Auto geschmissen hat. Wir waren schon lange gefasst, dass mal irgendjemand kommt. Da hab ich gehört, dass Kontrolle ist. Da sind wir durch den Wald, sind umeinand (umher) gelaufen, weil wir nicht gewusst hatten, wohin. Dann sind wir in die Sandgrube geflüchtet. Von da haben wir beobachten können, ob das Auto weg ist oder nicht. Als dann die Schwestern kamen, sie (uns) zu holen, haben viele gleich wieder das Laufen angefangen. In den Scheunen haben wir uns ein paar Mal versteckt. Das Odelloch (Güllegrube) haben wir uns ausgesucht, da wär’ niemand runtergestiegen. Wenn wir ein Auto gesehen haben, sind wir schon wieder gesprungen. Man hätt’ aber heim auch nicht können, die haben’s von den Häusern rausgeholt. Man war nirgends sicher. Wir haben nimmer gewusst, wo aus und wo ein. Wir haben mindestens drei Wochen nicht mehr schlafen können vor lauter Angst. – Sowie ein Auto kam, rief die Oberin: »Auf, marsch, versteckt’s euch. Wenn einer kommt, nicht stehen bleiben.«
Eine Ordensschwester erinnerte sich 1945 an die Panik unter den Taufkirchner Patienten und an die Reaktionen der Angehörigen:
Weil’s immer schon Ahnung gehabt haben. Das ist durchgesickert. Wie die damals kommen sind am Josephitag (19. März 1941), da sind’s ganz dick hinauf in die Sandgruben, was hat laufen können, 25, 30 schon. Geweint haben’s, sind kniet in der Sandgrube. Sobald jemand im Auto kam, haben’s sich forchten (gefürchtet). Wir selber haben dann die genommen, die weniger sich helfen konnten, so richtige Depper, die haben wir auf den Speicher nauf und abgeschlossen und ins Kloster, weil wir gemeint haben, da gehen’s nicht nach. Wie die Herren fort waren, haben wir sie wieder nunter. Die Angehörigen haben die oft so närrisch gemacht. Die einen haben ihre Leute rausgeholt, die anderen haben gesagt: Schwester, helfen’s zu. Alle, die so kommen sind, hatten Angst. Wenn jemand eingeliefert worden ist: »Aber gelt Schwester, umgebracht werden’s bei Euch nicht?« Damals sind so viel Leut’ ins Büro kommen. Da haben wir eine Zeitlang keine Zugänge gehabt. Da haben’s niemand geschickt. Da haben wir oft gesagt, die Leut’ haben Angst, die geben niemand mehr rein.
Man war mit denen so verwachsen, man hat die Leut’ so mögen. Manche waren jung reingekommen. Geweint haben wir halt. Die eine hat gar so gejammert. Die hat recht geschrien. Die gute Martha, die haben wir nicht gern gegeben. Ich seh’ es heut noch, wie wir rumstanden um den Omnibus. Die einen haben geweint. Es war furchtbar. Theres, die hat’s gespannt, dass was ist, die hat so viel geschrien: »Lat mi da, lat mi da!« [113]
Heute ist ein schwerer Tag
Die Abtransporte von Patienten aus der katholischen Anstalt Ursberg endeten für 379 Männer, Frauen und Kinder mit dem Tod. Eine dieser Verlegungen, die vom 19. November 1940, verlief äußerlich geordnet. Was die Pfleglinge empfanden und sagten, hielt eine Schwester des St. Vinzenz-Hauses der Anstalt fest.
Der Gedanke, »St. Vinzenz« verlassen zu müssen, traf die Pfleglinge schmerzlicher, als wir ahnen konnten. Sie gingen wortlos durch die Gänge und Räume, viele aßen nicht mehr und sahen fahl aus, die meisten schliefen nicht oder unruhig; sie seufzten und weinten und bettelten eindringlich: »Bitte nicht fort! Dableiben!« (…) Josef Willbold gesteht: »Jesus habe ich gern, aber sterben möchte ich nicht.« Johann Haas urteilt: »Mir gefällt die Geschichte nicht!« Jakob Speiser beruhigte sich selbst: »Ich bin gescheit, ich kann überall helfen; ich kann putzen, Hausarbeiten tun, dann geht es mir überall gut!« Trotz dieses Trostes weint er bitterlich beim Abschied im Sprechzimmer. Dominikus Harnauer
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