Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Regierungspräsidenten in Wiesbaden. Dort teilte man ihr irreführend mit, ihrem Sohn werde nichts geschehen, weil er nicht »unter das Gesetz« falle. Gemeint war offensichtlich das niemals erlassene Euthanasiegesetz. Tatsächlich war Walter in eine Zwischenanstalt der Aktion T4 verlegt worden, in einen Vorhof der Gaskammer Pirna-Sonnenstein. Am 7. April 1940 schrieb er seinen Eltern und seiner Großmutter:
Liebe Mutter, Vater u. Omi! Dein Packetchen und den Brief, habe ich heute erhalten, freue mich sehr darüber, von zu Hause etwas zu hören, der Inhalt des Packetchens schmeckt mir gut, wie alles, was von zu Hause ist. Am 5. 4. Sonnabend frug mich der Vorsteher, warum ich nicht nach Hause geschrieben habe. Den Brief hast du ja nun erhalten, wo die Karte geblieben ist, weiß ich nicht, habe sie hier abgegeben. Ob dieser Brief zur rechten Zeit eintrifft, – es tarf eigentlich nur einmal (bis Montagfrüh) Post abgeschickt werden. Vielleicht erlaubt der Vorsteher, dass dieser Brief abgeht, damit du dir keine zu großen Sorgen machst. Liebe Mutter, so sehr ich mich freuen würde, wenn du mich besuchen könntest, so bitte ich dich doch, die weite Reise jetzt nicht zu machen, du könntest deiner Gesundheit schaden, jetzt werden wahrscheinlich auch große Truppentransporte sein – wenn es dir möglich ist, so schicke mir ein Osterpacket. Wenn Vater zu seinem Urlaub mich besuchen könnte, würde es euch nicht so viel Geld kosten, da ja Vater bei der Wehrmacht verbilligt fährt. Könnte dann mit Vater alles Nähere besprechen. Das Packet von Oma habe ich nicht erhalten, wo ist es geblieben? Wenn das Osterpacket eintrifft, gebe ich es zur Aufbewahrung ab, da kann so schnell nichts wegkommen. Die Konfirmationskarte ist noch in Scheuern, konnte also keine abschicken. Auch hier bin ich in der Schuhmacherei, ob sie mit mir zufrieden sind? Mache dir keine Sorgen, ich mache keine Dummheiten. Wenn Vater herkommt, so schreibt mir vorher, damit ich wegen Ausgang fragen kann, vielleicht tarf ich dann etwas länger bleiben. Bin neugierig was der Landeshauptmann sagen wird, ehe Vater mich besucht, werde ich es wohl nicht erfahren. Wenn der Krieg zuende ist, wird man auch den Schleiher dieser Anstalten lüften, manchen wird dann vielleicht ein Licht aufgehen.
Am 28. April 1941 wurde Walter Lauer zusammen mit anderen Insassen nach Pirna-Sonnenstein deportiert. Dort starb er am selben Tag in der Gaskammer. [2]
Umsiedlung, Krieg und Krankenmorde
Anstalten als Zwischenunterkünfte für Umsiedler
Noch bevor hilfs- und pflegebedürftige Menschen in den Gaskammern der Aktion T4 starben, erschossen zwei Kommandos der SS deutsche und polnische Geisteskranke oder erstickten diese in eigens dafür konstruierten Gaswagen. Die Massaker begannen im Oktober 1939 und endeten im Frühjahr 1940. Sie standen im direkten Zusammenhang mit der Umsiedlung von 60000 Baltendeutschen, die infolge des deutsch-sowjetischen Vertrags vom August 1939 nach Deutschland transportiert wurden und dann Zug um Zug in den annektierten Teilen Polens angesiedelt werden sollten. Später folgten noch die Angehörigen der deutschstämmigen Minderheit aus dem sowjetisch annektierten Litauen, aus Ostpolen und aus den nunmehr sowjetischen Teilen Rumäniens. Die Umsiedlung der Auslandsdeutschen war eine Folge des für alle Beteiligten überraschenden deutsch-sowjetischen Vertrages vom August 1939 und der darin vorgesehenen gemeinsamen Interessengrenze quer durch Ostmitteleuropa.
So plötzlich wie der deutsch-sowjetische Vertrag und die Zusatzverträge zur Umsiedlung bald Hunderttausender Menschen geschlossen worden waren, so wenig waren die deutschen Behörden auf das »Heim-ins-Reich« der Auslandsdeutschen vorbereitet. Für die Um- und Ansiedlung verantwortlich zeichneten drei Institutionen, die alle Heinrich Himmler unterstanden: die Volksdeutsche Mittelstelle, die Einwandererzentralstelle und der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Den Mitarbeitern dieser sehr schnell geschaffenen Organisationen oblag es, kurzfristig Zwischenunterkünfte, Krankenhäuser und Auffanglager bereitzustellen, und deshalb ließen sie eine Reihe von Heil- und Pflegeanstalten räumen. Um rasch und unbürokratisch Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen, übergaben sie die Patienten dieser Einrichtungen den Mordkommandos der SS. Weil die Umsiedler aus Estland und Lettland per Schiff ankamen, fielen den Räumungen zuerst die Patienten jener Anstalten zum Opfer, die im
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