Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
den emeritierten Eppendorfer Professor Max Nonne (1861–1959), der 1923 mehrfach an Lenins Krankenbett gerufen worden war. Offensichtlich bat der von Degkwitz’ Erkundigungen irritierte Senator Professor Nonne um eine gutachterliche, das mörderische Handeln stützende Äußerung. Der Angesprochene folgte dem gerne. Zunächst thematisierte er in seinem Gutachten das Problem der Sterbehilfe auf Verlangen eines schwerkranken Patienten, sodann die Frage der »Vernichtung lebensunwerten Lebens«: »Eine zweite Gruppe besteht aus unheilbar Geisteskranken – einerlei ob sie so geboren oder wie viele Paralytiker oder Schizophrene im letzten Stadium ihres Leidens sind. Solche haben weder den Willen zu leben noch zu sterben. So gibt es ihrerseits kaum beachtliche Einwilligung in die Tötung, andererseits stößt diese auf keinen Lebenswillen, der gebrochen werden müsste. Ihr Leben ist absolut zwecklos, sie empfinden es als unerträglich. Für ihre Angehörigen wie für die Gesellschaft bilden sie eine furchtbare schwere Belastung. Ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke. Da sie großer Pflege bedürfen, geben sie Anlass, dass ein ganzer Menschenberuf entsteht, der darauf ausgeht, absolut unwertes Leben für Jahre und Jahrzehnte zu fristen.«
Ausdrücklich berief sich Nonne auf das 1920 erschienene Buch von Karl Binding und Alfred Hoche »Die Vernichtung lebensunwerten Lebens« und fuhr fort: »Für solche Fälle sagt Binding – und ihm schließt sich Hoche an –, dass er ›weder vom rechtlichen noch vom sozialen, noch vom religiösen Standpunkt schlechterdings keinen Grund sieht, diese Menschenleben nicht freizugeben, die das furchtbare Gegenbild eines Menschen bilden‹. Wenn man weiß, wie Angehörige zuweilen noch an solchen Menschen hängen, so müsste meines Erachtens den Angehörigen, die den Kranken pflegen und deren Leben durch das Leiden des Armen dauernd so schwer belastet wird, auch wenn der Pflegling in einer Anstalt Aufnahme gefunden hat, das Recht des Einspruches zugestanden werden. Es ist in Deutschland bisher seit eineinhalb Jahren schon aktiv vorgegangen worden. Dies hat in weiten Kreisen erhebliche Beunruhigung hervorgerufen und in erster Linie auch in den Kreisen der Psychiater. Man kommt als Arzt nur schwer von dem Gedanken ab, den schon Hippokrates in seinem ärztlichen Eid aussprechen lässt, dass der Arzt das menschliche Leben nicht zu vernichten, sondern zu erhalten hat, und es besteht die Möglichkeit beziehungsweise die Gefahr, dass die Öffentlichkeit die Psychiater mit Misstrauen und als ›Henker‹ ihrer Kranken betrachtet und bezeichnet. Ich glaube, aus dieser Besorgnis ist jetzt in Deutschland fast nirgends mehr von ›psychiatrischen‹, sondern nur noch von ›Nervenkliniken‹ die Rede. Im Frühjahr 1941 sollte die Jahresversammlung der Deutschen Neurologen und Psychiater in Wien abgehalten werden, und zwar stand das Thema zur Diskussion ›Moderne Maßnahmen in der Behandlung der Geisteskrankheiten‹. Offenbar hat man in Berlin gefürchtet, dass die Diskussion über das noch nicht genügend durchdachte und noch nicht bereinigte Thema lebhafte Wellen schlagen würde, und der Kongress wurde von Berlin aus abgesagt.«
Nonne unterschied zwei Kategorien von »geistig Toten«, nämlich diejenigen, die so geboren, und diejenigen, die erst später infolge von Krankheiten oder Unfällen so geworden seien. An letzteren hingen die Angehörigen oft sehr, dagegen hätten die von Geburt an Behinderten nicht diesen emotionalen Schutz seitens ihrer nächsten Verwandten. Daraus folgerte Nonne: »Die von Geburt an geistig Toten oder vom 1. oder 2. Lebensjahr an geistig Toten können noch lange leben. Ich habe diese Fälle gesehen von völliger Idiotie aufgrund allerfrühester Veränderungen, die eine Lebensdauer und damit die Notwendigkeit fremder Fürsorge von zwei Menschenaltern und darüber gehabt haben. Die Existenz solcher Vollidioten würde somit am schwersten auf der Allgemeinheit lasten. Die Schwierigkeiten eines Versuches, diesen Dingen auf gesetzgeberische Weise beizukommen, sind groß. Zurzeit begegnet der Gedanke, durch Freigabe der Vernichtung völlig wertloser geistig Toter eine Entlastung für unsere nationale Überbürdung herbeizuführen, vielerorts noch Widerspruch. Zunächst und vielleicht noch für eine weitere Zeit stehen vorwiegend gefühlsmäßige und auch religiöse Bedenken dagegen. Im Publikum muss auch heute noch die Überzeugung herrschen, dass die Ärzte und
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