Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
größere abträgliche Wirkung erzielen zu können«.
Nicht wenige der heillos überlasteten Ärzte fragten, wenn sie zu Hausbesuchen angefordert wurden, »wie alt der Kranke sei«. Gelegentlich ließen sie sich zu Äußerungen wie dieser »verleiten«: »An der Front sterben heute täglich Hunderte gesunder und junger Menschen, da kommt es auf ein altes Menschenleben zu Hause nicht an.« Eine solche Praxis belegen die SD-Berichte aus Frankfurt (Oder), Kassel, Nürnberg und Hamburg. Von dort wurde mitgeteilt: »Auch die zum Teil primitive Unterbringung alter Leute aus den durch Luftterror zerstörten Städten« trage zur Depression bei, zumal unter den verlegten Rentnern »eine hohe Sterblichkeitsziffer, verursacht durch den Wechsel der gewohnten Verhältnisse, feststellbar« sei. Als ein Beauftragter des Gauleiters ein privates Nürnberger Altenheim für andere Zwecke beschlagnahmen wollte, protestierte die Leiterin mit der Frage: »Ja, aber wohin denn mit unseren Altchen?« und erhielt zur Antwort: »Die sollen halt zu Jesus gehen!«
Besonders beunruhigend wirkte in der Region Frankfurt (Oder) die Nähe zur Anstalt Meseritz-Obrawalde, wo in der zweiten Kriegshälfte mehr als 10000 psychisch Kranke ermordet wurden: »Darüber hinaus ist den Volksgenossen das Verfahren gegen Geisteskranke in Obrawalde nicht unbekannt geblieben, zumal in dem vorwiegend katholischen Kreis Meseritz die konfessionellen Kreise für eine Verbreitung gegnerischer Gräuelgeschichten sorgen.« Die Verbindungslinie zu den tatsächlichen Euthanasiemorden zogen die Ausgehorchten besonders dann, wenn alte Leute in ehemalige Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen wurden, die jetzt als »Ausweichstellen« dienten. Derartige Berichte gingen aus Graz, Dresden, Hamburg und Kattowitz ein.
Von der SD-Außenstelle Rybnik in Oberschlesien berichteten die SD-Leute: »Noch heute werde von der Bevölkerung (davon) gesprochen, dass die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten auf schnelle Art und Weise ›hinübergebracht‹ worden sind. Die Sterbeziffer in den Anstalten sei im Verhältnis zu früher sehr hoch.« In der Gegend um Weimar befürchteten »viele alte Leute«, in Altenheimen »einer Behandlung mit sogenannten ›Himmelfahrtsspritzen‹ ausgeliefert zu sein, wie sie in verschiedenen Irrenanstalten zahlreich verabreicht worden sein sollen«. In Nürnberg erfuhr der SD: »Hartnäckig wird weiterhin unter der Bevölkerung die Meinung vertreten, dass die unheilbar Schwerkranken in den Heil- und Nervenanstalten, zu denen die Altersirrsinnigen gehören, mit ärztlicher Hilfe von ihrem Leiden frühzeitig erlöst werden.«
Weniger bedeutsam scheinen solche Gerüchte 1944 in Wien gewesen zu sein. Interessanterweise griff der Berichterstatter auf das Jahr 1941 zurück. »Wie seinerzeit gemeldet, rief die Räumung der Irrenanstalten unter weiten Kreisen der Bevölkerung Erregung hervor und gab Anlass zu den verschiedensten Gerüchten über die Herbeiführung des Todes ihrer Insassen. Diese sowie die Räumung selbst sind inzwischen fast vollkommen in den Hintergrund getreten und werden nur noch gelegentlich in Erinnerung gerufen, so zum Beispiel anlässlich der Aufführung des Films ›Ich klage an‹.« Dieselben Schlussfolgerungen zogen die SD-Männer, die in Danzig den einschlägigen Gerüchten nachspürten.
Aus Dresden meldete ein praktischer Arzt in seiner Eigenschaft als Mitarbeiter des SD: »Es ist Tatsache, dass Gerüchte über die Herbeiführung des vorzeitigen Todes bei alten Leuten umlaufen.« Viele der Patienten, »vorwiegend in Kreisen von Arbeitern«, verträten die Ansicht, der »frühe Tod alter, nicht mehr arbeitsfähiger Menschen« sei »von diesem System ja gewollt«. Solche Mutmaßungen beruhten nach Meinung des ärztlichen Spitzels auf den »in der Öffentlichkeit vor etwa zwei Jahren stark erörterten Todesfällen in den Nervenklinken und Irrenanstalten«.
In Stettin fragte eine »78-jährige, geistig noch sehr rüstige Frau« den SD-Außenstellenleiter nach einem Fliegeralarm, »ob es wahr sei, dass alte Leute bei Verschlechterung der Ernährungslage mit der künstlichen Herbeiführung des Todes zu rechnen haben«. Als die Insassen der Augsburger Altersheime nach schweren Luftangriffen aufs Land evakuiert werden sollten, verweigerten sie den Abtransport – »man wolle sie bloß evakuieren, um sie loszuwerden«. Vertrauensleute des SD-Abschnitts Dessau wollten von einigen Alten verhaltenes Verständnis gehört haben. Diese wollten
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