Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Sachbearbeiter »IIIB3b« (»Rasse- und Volksgesundheit«) am 1. September 1944 einen fünfseitigen Stimmungsbericht für Staatssekretär Leonardo Conti. [438]
Aus der Erhebung lässt sich ablesen, ob und wie genau die Bevölkerung in den einzelnen Regionen über die Morde an Patienten unterrichtet war. Die Quelle erscheint umso aufschlussreicher, als das Thema »Euthanasie« in den »Meldungen aus dem Reich«, den zusammenfassenden SD-Berichten für das Spitzenpersonal von Partei und Staat, weitgehend tabu war. In der Tat wussten die Deutschen über die Zustände in den Landesnervenkliniken gut Bescheid. Offenbar wiesen vor allem die älteren auf das gewaltsame Sterben der psychisch Kranken hin, weil sie sich selbst bedroht fühlten.
Im Rheinland ging 1944 besonders in »kirchengebundenen Kreisen« die Meinung um, dass »neben älteren Leuten auch Geisteskranke« in den Krankenhäusern »eine Spritze oder auch Medizin verabreicht bekämen, die eine Lungenentzündung zur Folge hätte und in den meisten Fällen tödlich wirke«. In einem Nachtrag notierte der Düsseldorfer SD-Mitarbeiter vier Wochen später, das Gerücht sei in der Bevölkerung weiter verbreitet, als man noch vor einiger Zeit angenommen habe: »So wollte man von Listen erkrankter alter Menschen, insbesondere auch von geistig normalen Pflegefällen wissen, die abtransportiert worden wären und deren Angehörige später eine kurze Nachricht vom erfolgten Ableben mit der Anweisung zum Empfang der Urne mit der Asche bekommen hätten. In zwei Versionen hört man hin und wieder darüber reden, dass Medikamente verabfolgt würden, die nach kurzer Zeit ein Ableben des Betreffenden herbeiführen würden, ferner, dass heilkräftige Medikamente nicht mehr ausgegeben würden. Das gilt zum Beispiel für Insulin, von dem es heißt, dass es nur Erwerbstätigen und Personen unter 60 Jahren gegeben werden dürfe.« Letzteres stimmte, ebenso entsprachen die anderen, von den Lauschern eingefangenen Äußerungen der Wahrheit.
Von einer älteren Frau hieß es in dem SD-Rapport, sie sei nach einem Luftangriff auf Barmen als Bombengeschädigte – nicht als Verletzte – zunächst in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Von dort habe man sie erst in ein Altenpflegeheim und dann, »noch immer gesund«, in die Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen verlegt, »wo sie nach 14 Tagen starb«. Das gleiche Schicksal erlitt eine besonders rüstige dreiundachtzigjährige Frau nach demselben Bombenangriff.
In Remscheid kursierte die Geschichte einer anderen Frau, deren Mann infolge eines akuten Leidens »nicht mehr laufen konnte«. Nach seiner Verlegung aus dem Remscheider in ein Bonner Krankenhaus war er, als seine Frau ihn besuchen wollte, »plötzlich nicht mehr da«. »Weil sie glaubte, dass ihr Mann auf unnatürlichem Wege beseitigt worden« sei, drohte sie dem Chefarzt, »sie werde ihren Sohn an der Front von dem mysteriösen Verschwinden des Vaters unterrichten«. Und siehe da, »auf einmal hat sie ihren Mann wiederbekommen«. Ihren Verdacht bestätigte das erst recht. Dem Bericht zufolge schwor sie »Stein und Bein, dass ihr Mann auf der Todeskandidatenliste gestanden habe und dass man ihm aber die Spritze oder das Pülverchen nicht gegeben habe, da man plötzlich Sorge bekommen habe, dass die Sache herausgekommen wäre«. Fast entschuldigend fügte der Berichterstatter des SD hinzu, »dass diese Informationen aus katholischen Kreisen stammen«.
In Gelsenkirchen und Paderborn zeigten nicht nur alte Leute, sondern auch Lungenkranke »eine Abneigung gegen die Unterbringung in Heilstätten«, da sie nicht ohne Grund annahmen, sie könnten dort »durch irgendwelche Medikamente vorzeitig getötet werden«. Ein Heilgehilfe aus Bochum berichtete: »Vielfach behaupten Invaliden des Bergbaus, die eine Staublunge haben, dass ein Interesse vorläge, sie möglichst bald ›um die Ecke zu bringen‹.« Im Kreis Warendorf (SD-Abschnitt Münster) verweigerte ein 58-jähriger Mann die »vom Arzt für notwendig gehaltene Injektion«. Wie viele seiner Altersgenossen befürchtete er, es könne sich um eine Todesspritze handeln. Jenseits solch unmittelbarer Ängste wurde überall »immer deutlicher« darüber geredet, »dass Volksgenossen über 60 Jahre keine ärztliche Hilfe mehr erhalten sollen und somit zum Sterben bestimmt seien«. In Linz (Donau) beruhigten die SD-Spitzel ihre Berliner Vorgesetzten auf eigene Art: Die Behauptungen seien »bereits zu alt und zu bekannt, um eine
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