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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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ohne Radio, Zeitung und Bücher, ja, ohne irgendeine Beschäftigung. Wie sehne ich mich nach meiner Bastelei. Wir essen aus kaputtem Essgeschirr und sind in dünnen Lumpen gekleidet, in denen ich schon mehr als gefroren habe wie einen ganzen Winter in Hagen. Vor 5 Wochen habe ich zuletzt gebadet und ob wir in diesem Jahre noch baden, wissen wir nicht. Alle 14 Tage gibt es ein reines Hemd u. Strümpfe. Das ist Sozialismus der Tat! Euer Ernst. [3]  

Kein Einziger kommt mehr zurück
Theophil Henning wurde 1942 aus der Nähe von Bremen nach Hadamar verlegt und arbeitete dort auf dem Hofgut. Sein Brief vom 8. Dezember 1942 ist als Abschrift in den Akten des Hadamarprozesses überliefert. Der Adressat Gustav Gerdes, Elektromeister in Wesermünde, schickte ihn 1947 an das Frankfurter Gericht, das gegen die Mörder von Hadamar verhandelte. 1943 hatte die Verwaltung der Anstalt den letzten Brief von Gerdes an Theophil Henning mit dem Vermerk versehen »Zurück! Verstorben«. Der Adressat war am 25. Mai ermordet worden. [4]  
    Lieber Gustav! Deinen lieben Brief samt Karte habe ich erhalten. Der Fehler lag darin, dass Du das Wort Landesheilanstalt weggelassen hast, denn ich habe in Hadamar keine eigene Wohnung, also musste die Karte zurückgehen. Bin in Hadamar selbst ja noch nicht so bekannt wie in Bremen-Ellen oder in Wesermünde. Sind ja erst ein gutes Vierteljahr hier; auch bin ich hier nicht in Familienpflege, wie es in Ellen zuerst der Fall war, da war ich bekannter als meine Pflegeeltern, jedes Kind kannte mich in Ellen wie in Bremerhaven oder vielmehr Wesermünde. Komme auch sehr wenig herunter nach Hadamar. Briefträger möchte ich in Hadamar schon gar nicht sein, und jeden Tag Tausende Treppenstufen hinauf- und hinunterklettern ist wahrhaftig kein Spaß. Von 127 Personen, die von Ellen hier angekommen sind, liegen bloß 82 auf dem Anstaltsfriedhof; da kannst Du Dir einen Begriff machen, also noch 45 über bis jetzt; wenn das so weitergeht, kommt kein einziger mehr zurück. Es sterben hier bald mehr als Soldaten im Felde. Die Aufgezählten sind nur Männer, die Frauen und Mädchen sind mindestens noch mal so viel. Von 82 waren viele als Kuhlengräber und Leichenträger hier beschäftigt. Wenn Du glaubst, dass Du allein so viel Arbeit hast, da irrst Du Dich aber, hier sind nur noch 5–6 Pfleger, die Arbeit machen alle die Patienten. Ein angestellter Schuhmacher, ein angestellter Fuhrmann auf dem Gutshof, ein angestellter Schlosser und ein Tischler, der zugleich Lastautofahrer ist. Ein Gärtner, ein Gutsverwalter, 1/2 Dtz. Pflegerinnen, die zugleich auch Köchinnen oder Wäscherinnen und Plätterinnen sind. In ganz Hadamar gibt es keinen Schmied oder Schlosser mehr. Viele kommen zu uns, auch Bauern aus der Umgegend, um Tat und Hilfe zu holen. Wir sind hier eben alles, nur Pferdebeschlag haben wir noch nicht gemacht. Radiogeräte kommen auch zu uns in die Reparatur, das heißt, wenn sie nicht schon lieber auf den Radiofriedhof gehen, wir sind auch nur Kurpfuscher manchmal. Schuster, Schneider und Besenbinder, auch Poet dazu. Ich glaube, Du hast um diese Zeit auch Geburtstag. Gratuliere schon im Voraus. Meine Schwester Ulli, also Emils Mutter, ist jetzt auch Witwe und bei Emil in Mandel bei Bad Kreuznach. Hat mir ein paar Brötchen und Kuchenmarken zum Geburtstag geschickt. Viele Grüße an Euch und alle Freunde dort, so viel meiner noch erinnern, von Eurem Theophil Henning. Alles Leben strömt aus Ihm, dem allein wahren Gott und Vater unseres Herrn Jesu Christi, er sei hochgelobt in Ewigkeit. Amen.

Ein Überlebender berichtet im Herbst 1945 aus Hadamar
Karl Reich wurde 1941 nach Hadamar verschleppt. Dort arbeitete er auf den Feldern des Hofguts und überlebte. Als er von dem bevorstehenden Strafprozess gegen die einstigen ärztlichen, pflegerischen und administrativen Hadamarer Massenmörder erfuhr, schrieb er, noch immer Insasse der Anstalt, am 2. Oktober 1945 an die Staatsanwaltschaft in Wiesbaden (Rechtschreibung wie im Original, zahlreiche Satzzeichen ergänzt):
    Wie ich erfahre, ist am 8. Okt. d.J. die Verhandlung – gegen Wahlmann, früher Direktor der Landes Heil Anstalt zu Hadamar, und seinen ehemaligen Verwaltungsbeamten Klein. Ich möchte Ihnen als Zeuge, und noch heute dort als Patient untergebracht, folgendes mitteilen. Im Jahre 1941 (April) wurde ich mit noch anderen Patienten, (trotz) des Protestes meines Bruder, den praktischen Tierarzte Dr. O. Reich zu Ülzen, aus der Anstalt von

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