Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
demnach niemandem zur Last zu fallen, »wenn so viele junge Menschen an den Fronten sterben müssten, könnten sie erst recht in ihrem hohen Alter abkommen«. In Weimar hielt der SD den misstrauischen, stets nach Kräftigungsmitteln und Diätzulagen verlangenden Senioren zugute: »Viele dieser alten Leute hängen darum besonders zäh am Leben, weil sie den Ausgang des jetzigen Krieges auf jeden Fall miterleben möchten.«
Die Berichterstatter notierten fast ausschließlich Meinungsäußerungen der betroffenen Generation. Empörung unter jüngeren, noch nicht im Rentenalter stehenden Volksgenossen teilten sie nicht mit. Die Ursache für die Auffassung der Alten, dass sie »dem heutigen Staat im Wege« seien, so wurde aus Königsberg gemeldet, läge zum einen in der »bevorzugten Behandlung von Kindern, werdenden Müttern und Jugendlichen«, zum anderen im Verhalten der Hitlerjugend: »Die Ausdrücke ›Friedhofsgemüse‹ und ›verkalkt‹ spielen dabei eine wesentliche Rolle.«
Ähnliches war in Dresden zu hören: »Als eine ganz wesentliche Bedingung für das Zustandekommen solcher Gerüchte ist die Verächtlichmachung, ja die Verwerfung der älteren Generationen, ja des Alters zu nennen, wie sie vor dem Kriege in besonderem Maße in Theorie und Praxis bei der HJ geübt wurde. Der Kampf gegen die Verkalkung mit Worten war teilweise so stark, dass der Eindruck entstehen konnte, als ob alles, was über 40 Jahre alt wäre, für den Aufbau dieses Staates nicht mehr geeignet oder gar verwerflich sei.« Solche Denk- und Verhaltensweisen seien durch die staatliche, »übermaßvolle Verherrlichung der Jugend« noch bestärkt worden: »Oft genug wurde von den Älteren und Eltern gesagt, dass sie gar nichts zu sagen hätten und dass die öffentliche Meinung allein von der Jugend in einem maßlosen Zustande beherrscht werde.« Dementsprechend fand das prinzipielle Misstrauen gegen die medizinische Versorgung »hauptsächlich in Kreisen der älteren Generation Verbreitung«. Auswirkungen »auf die übrigen Bevölkerungskreise« konnte der SD »kaum feststellen«.
Nachrichten aus den Sterbehäusern
Hier kann man uns unauffällig verhungern lassen
Am 3. September 1943 schrieb der damals 41-jährige Ernst Putzki aus der hessischen Sterbeanstalt Weilmünster an seine Mutter. Der Brief wurde abgefangen und in der Patientenakte abgelegt. Am 9. Januar 1945 wurde Ernst Putzki in Hadamar ermordet.
Dokumente!!! Liebe Mutter! Wir haben heute schon 4 Jahre Krieg und den 3. 9. 43. Wir geben Nachrichten! Euer Brief kam am Sonntag, d. 22. 8. hier an. Die Stachelbeeren bekam ich nicht. Das angekündigte Paket erhielt ich erst gestern und wurde wahrscheinlich zu Fuß hierher gebracht. Der Inhalt, 2 Pfund Äpfel u. eine faule matschige Masse von stinkendem Birnenmus, wurde mit Heißhunger überfallen. Um eine Handvoll zu faulem Zeug rissen sich andere Todeskandidaten drum. Meine Schilderungen aus Wunstorf wurden nicht geglaubt, aber diese muß man glauben, weil sich jeder von der Wahrheit überzeugen kann. Also: Nachdem ich an Paul 2, an Paula 1 Brief von Warstein schrieb, schickte ich Dir 6 Tage vor dem Transport die Nachricht von unserer Übersiedlung nach hier und bat noch um Deinen Besuch. Der Transport war am 26. Juli, und ich bin Montag genau 6 Wochen hier. Wir wurden nicht wegen der Flieger verlegt, sondern damit man uns in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern lassen kann. Von den Warsteinern, die mit mir auf diese Siechenstation kamen, leben nur noch wenige. Die Menschen magern hier zum Skelett ab und sterben wie die Fliegen. Wöchentlich sterben rund 30 Personen. Man beerdigt die hautüberzogenen Knochen ohne Sarg. Die Bilder aus Indien oder Rusland von verhungerten Menschen habe ich in Wirklichkeit nun auch. Die Kost besteht aus täglich 2 Scheiben Brot mit Marmelade, selten Margarine oder auch trocken. Mittags u. abends je 3/4 Liter Wasser mit Kartoffelschnitzel u. holzigen Kohlabfällen. Die Menschen werden zu Tieren und essen alles, was man eben von anderen kriegen kann, so auch rohe Kartoffel und Runkel, ja wir wären noch anderer Dinge fähig zu essen wie die Gefangenen aus Rusland. Der Hungertod sitzt uns allen im Nacken, keiner weiß, wer der Nächste ist. Früher ließ man in dieser Gegend die Leute schneller töten und in der Morgendämmerung zur Verbrennung fahren. Als man bei der Bevölkerung auf Widerstand traf, da ließ man uns einfach verhungern. Wir leben in verkommenen Räumen
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