Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
abgeschlossen. Doch hat Lutz schon mehrere Aufsätze zu ihrem Thema veröffentlicht. Der vorläufige Befund besagt, das weitverbreitete Schweigen der Angehörigen, habe »die Durchführung der Morde zumindest wesentlich erleichtert«: »Denn bei der Kommunikation zwischen Anstalten und Angehörigen handelte es sich keineswegs um eine ›Einbahnstraße‹, die den Angehörigen nur das Re-Agieren überließ. Die auf den unterschiedlichen Ebenen Verantwortlichen behielten die Reaktionen der Angehörigen durchaus aufmerksam im Blick. Nur boten diese im Allgemeinen keinen Anlass zur Beunruhigung. Es gab Fälle offenen Protests auch an nichtkonfessionellen Anstalten, aber diese blieben ausgesprochen selten.« [451]
Die einander ähnelnden Angaben von Heyde, Faulstich und mir beziehen sich allein auf das Verhalten derjenigen, die mit dem plötzlichen, den Umständen nach merkwürdigen Tod eines oft schwierigen, allerhand Aufwand erfordernden Familienmitglieds konfrontiert wurden. Damit ist die Frage nach dem Ausmaß des Protests nicht erschöpft.
Wie im Vorangegangenen mehrfach belegt, vermochten energisch auftretende Angehörige immer wieder, Verwandte aus den Fängen der Aktion T4 zu befreien. Mit Sicherheit darf angenommen werden, dass viele Direktoren, die bis zu 30 Prozent der Patienten von den Todeslisten strichen und während der zweiten Kriegshälfte die Deportations- und Todeskandidaten weitgehend selbst aussuchten, eher solche Patienten verschonten, deren Angehörige vermutlich intensiv nachfragen würden.
Im Fall der auf diese Weise geretteten Patienten führte ein deutlicher, an Ärzte, Pfleger und Direktoren gerichteter Einspruch vielfach zum Erfolg. Weiter bestand häufig die objektive Möglichkeit, den psychisch kranken oder körperlich geschädigten Angehörigen für kurze oder längere Zeit nach Hause zu nehmen oder ihn in vergleichsweise sicheren kirchlichen oder privaten Pflegeheimen unterzubringen. Allerdings setzte das einigermaßen auskömmliche Lebensverhältnisse voraus. Quantitativ bedeutsamer werden das selbstverständliche oder demonstrative Besuchen und Nachfragen der Verwandtschaft gewesen sein. Diese stille, wohl am weitesten verbreitete Form faktischer Überlebenshilfe fällt weder unter die Kategorien Protest und Widerstand, noch führte sie zu einem präventiv verstandenen Entlassungsantrag für den Pflegling.
Solche Arten der Intervention können nur mit erheblichem Aufwand gemessen werden. Umso verdienstvoller ist die sozialstatistische Studie einer Forschungsgruppe, die anhand der Kranken- und Personalakten von 3002 Opfern der Aktion T4 auch das darin dokumentierte Verhalten der Angehörigen analysierte. Zum Vergleich wurde eine Stichprobe von 563 entsprechenden Akten aus elf verschiedenen Heil- und Pflegeanstalten herangezogen, die Auskunft über solche Patienten geben, die mit dem Leben davonkamen.
Für guten familiären Rückhalt der Patienten sprechen im Sinne der genannten Untersuchung Briefe, Überweisungen von Taschengeld, das Senden von Päckchen, Anträge auf Beurlaubung des Kranken an Festtagen, regelmäßige Besuche, insbesondere auch zu Weihnachten und Ostern, zum Geburts- und Namenstag. Auf der Grundlage solcher Anhaltspunkte konnte Petra Fuchs darlegen, dass im Fall der ermordeten Kranken in 19,2 Prozent der Fälle »ein enger Familienzusammenhalt« bestand, die Vergleichsgröße für die Überlebenden ergibt 39,4 Prozent. [452] Das bedeutet: Leise Formen der Zugewandtheit seitens der Angehörigen erhöhten die Überlebenschancen eines Pfleglings beträchtlich.
Auch das bezogen die Organisatoren der Aktion T4 in ihr Kalkül ein. Indem sie die Patienten aus dem Rheinland an die Ostgrenze, Hamburger Pfleglinge nach Wien oder brandenburgische Patienten nach Bayern verschoben, wollten sie familiäre und andere soziale Bande absichtlich kappen – verstärkt in der zweiten Hälfte des Krieges. Die Lüge von der Verlegung auf Befehl des Reichsverteidigungskommissars musste die Hilfsreflexe der Verwandtschaft mindern, das Aufbegehren gegen die angeblich militärische Notwendigkeit als zwecklos erscheinen lassen. Der Krieg selbst fragmentierte die deutsche Gesellschaft zunehmend, riss die Familien auseinander, verengte die Aufmerksamkeit täglich stärker auf die noch gesunden Familienmitglieder – die Kinder, die Verwandten in den bombardierten Städten, die Ehemänner und Söhne an den Fronten. Mit jedem Monat verringerten die äußeren Umstände die
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