Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
Vom Netzwerk:
befragte, um ihr Einverständnis für »eine sehr riskante Therapie« zu erlangen, will sagen, ihr indirektes Ja. Lehnten sie ab, verzichtete Knigge auf die tödliche »Behandlung«. Das geschah nach Aktenlage in drei von vier Fällen. Die von Knigge gestellte Frage konnte nur mit Ja oder Nein beantwortet werden, für Stimmenthaltung und die Hinnahme eines »plötzlichen« Todes ließ sie wenig Raum. 25 Prozent der Eltern stimmten zu, 75 Prozent lehnten ab. Ergebnisse, die in eine ähnliche Richtung weisen, fand Petra Lutz 2011 für das Verhalten von Eltern, deren Kinder in den Todesabteilungen Ansbach und Eichberg ermordet worden waren. Maike Rotzoll und Gerrit Hohendorf berichteten 2002 davon, wie schwierig es für sie war, in den späten 1990-Jahren einen Kontakt zu den Angehörigen jener 21 Kinder herzustellen, die Carl Schneider 1942 bis 1945 zu Forschungszwecken hatte ermorden lassen. Nur fünf Familien überwanden die »erhebliche, mit Scham verbundene Hemmschwelle« und erklärten sich zu Gesprächen bereit. [447]  

    Anders als die meisten anderen Historiker ging Heinz Faulstich auch der schwierigen Frage nach dem Verhalten der Angehörigen nicht aus dem Weg. Er untersuchte sie am Beispiel der Anstalt Reichenau. Bis auf elf haben sich sämtliche Kranken- und Personalakten der 508 Patienten erhalten, die 1940/41 in den Gaskammern sterben mussten. Faulstich wertete die 497 Akten aus und gelangte zu folgenden Daten:
    Nach dem Schicksal der Verschleppten erkundigten sich brieflich 112 Angehörige, das sind 22,5 Prozent. Unter diesen Nachfragen fand Faulstich »insgesamt etwa 20 bis 30«, die er als Protestschreiben einstufte. Deutlich vernehmbar empörte sich jeder 20. oder 25. Angehörige. Auf die Deportation und den Tod von 77,5 Prozent der Reichenauer Kranken folgte keine dokumentierte Reaktion.
    Als Grund dafür vermutete der erfahrene Anstaltsarzt vorangegangene »Kontaktabbrüche« und kommentierte: »Auch Angehörige sind nicht selten mitbeteiligt, wenn ein Mensch jahrelang in der Anstalt verbleibt. Das Ausgrenzen eines Menschen in der Psychiatrie ist – im Gegensatz zur Behauptung mancher Psychiatriekritiker – nicht das Werk obrigkeitshöriger Psychiater allein, sondern häufig auch ein Ausgrenzen aus Familie und sozialem Umfeld. Die damalige Praxis der Psychiatrie, Patienten wie Versatzstücke von einem Ende des Landes in das andere zu verschieben, tat ein Übriges, um vielleicht noch vorhandene, spärliche Kontakte zum Erliegen zu bringen.« [448]  
    Das wussten auch die Akteure der T4. In deren Meldebogen sticht die Frage hervor: »Erhält Patient regelmäßig Besuch?« Im April 1941 erläuterte der damalige ärztliche Leiter der T4, Werner Heyde, deutschen Spitzenjuristen, wie er die Reaktionen der Angehörigen einschätzte: »Jetzt wird der Nachlass genau registriert, um den es den Angehörigen zumeist zu tun ist. In 80 Prozent der Fälle sind die Angehörigen einverstanden, 10 Prozent protestieren, 10 Prozent sind gleichgültig.« [449]  
    Heyde wird sich auf ähnliche Reaktionen und Nichtreaktionen gestützt haben, wie sie für die Anstalt Reichenau überliefert sind – wobei Faulstich eine Protestquote von maximal sechs Prozent auszählte. Damit unterschreitet sein Ergebnis die Schätzung Heydes deutlich, und zwar für eine Anstalt mit einem wenig industrialisierten, ländlich und kleinstädtisch geprägten Einzugsgebiet mit weit überwiegend katholischer Bevölkerung. Für die großstädtischen und protestantisch dominierten Berliner Patienten liegt keine exakte Untersuchung vor. Eine höhere Quote deutlich formulierten Protests ist nach meinem Eindruck unwahrscheinlich. Meine Neuruppiner Stichprobe bezieht sich auf mehrere Tausend Patienten, die alle aus Berlin verlegt wurden: Drei Protestbriefen, die gegen das Morden gerichtet waren, stehen vier Beschwerden gegenüber, in denen es den Angehörigen ausschließlich um den Nachlass ging. Das passt zu Heydes Eindrücken.
    Bernd Walter konnte für die westfälische Anstalt Warstein belegen, dass die dort arbeitenden Schwestern des Vinzentinerinnenordens den Angehörigen gezielt, sehr deutlich und auf verschiedenen Wegen nahelegten, die vom Abtransport bedrohten Kranken aus der Anstalt herauszunehmen. Das gelang in knapp vier Prozent der Fälle. [450]   Neben Faulstich hat sich die Historikerin Petra Lutz der Frage zugewandt, »warum so wenige Patienten durch ihre Angehörigen gerettet worden sind«. Die Arbeit ist nicht

Weitere Kostenlose Bücher