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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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Gnadengesuch ein. [454]  

    Die allermeisten Deutschen hatten die Verbrechen hingenommen. Sie hatten sich in den Bannkreis des Bösen ziehen lassen. Deshalb schwiegen sie nach 1945 weiterhin. In den Wohn- und Schlafzimmern hingen die Fotos der gefallenen Ehemänner, Söhne und Brüder. Fotos der Onkel oder Großmütter, die als Pflegebedürftige, Demente oder psychisch Auffällige ums Leben gebracht worden waren, unterlagen einem ungeschriebenen Bilderverbot.
    Doch sollten wir Heutigen uns nicht leichtfertig über die Eltern, Geschwister und Gatten erheben, die damals wankten. Sie lebten unter sehr viel schwierigeren Umständen. Anders als heute bestand, etwa im Fall der Geburt eines behinderten Kindes, keine Aussicht auf großzügige staatliche Hilfen, sondern die reale Bedrohung, dass die gesamte Familie als erblich belastet eingestuft und dauerhaft um ihre Zukunftschancen gebracht werden würde.
    Schwer körperlich und geistig behinderte Menschen und solche, die psychisch aus der Bahn geraten, sind nicht selten eine Last. Sie machen diejenigen ratlos, die sich als gesund ansehen, stören deren Lebenspläne und Normalitätsbegriffe – manchmal in bedrohlicher Weise. Deshalb lösen sie Ratlosigkeit aus, Gedankenflucht und Abwendung, Angst und Abwehr, ziehen Aggressionen und Todeswünsche auf sich. Weil derartige Gefühle gegen nahestehende, noch dazu wehrlose Menschen gerichtet sind, erzeugen sie Gewissensnot und das Bedürfnis, das Unlösbare irgendwie zu lösen. Politik und gesellschaftliche Normen können solche Ambivalenzen und Anfechtungen, wie im Fall des NS-Staats, verstärken und ausnutzen oder, wie im heutigen Deutschland, stark abmildern – abschaffen lassen sich menschliche Dispositionen jedoch nicht. Wer die Aktion T4 allein als Verbrechen »der Nationalsozialisten« oder »der Täter« begreift, verschließt die Ohren vor den Botschaften der Ermordeten. Die Opfer der Euthanasie galten vielen als Last. Sie starben gewaltsam und von aller Welt verlassen.

Anhang
    Nachbemerkung
    Endlich, nach 32  Jahren
    Mit der Arbeit an diesem Buch begann ich 1981. Nach kleineren Beiträgen zu ersten Ergebnissen folgten 1985 zwei umfangreiche, kompakte Aufsätze. Sie trugen richtungsweisende Titel: »Medizin gegen Unbrauchbare« und »Der saubere und der schmutzige Fortschritt«. In den nächsten zehn Jahren kamen mehrere kleine Studien und Kapitel in Büchern zu einzelnen Aspekten der Euthanasiemorde hinzu. Später beschäftigte mich das Thema, soweit es mit Fragen der Judenverfolgung zusammenhing, zuletzt im Schlusskapitel des Buches »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« (2011). Gelegentlich hatte ich Vorträge zu halten oder mich journalistisch einzumischen, wenn irgendwo, zumal nach 1990 in der ehemaligen DDR, geschichtspolitische Streitigkeiten ausbrachen. Am Ende umfassten meine Arbeiten zu den Medizinverbrechen der NS-Zeit mehr als tausend Manuskriptseiten. Doch erfüllt sich der ursprüngliche Plan zur Monographie erst mit diesem Buch. Deshalb seien einige Hinweise zur Entstehungsgeschichte erlaubt.
    In den frühen 1980er-Jahren bedurfte das Erforschen der Euthanasiemorde noch erheblicher Hartnäckigkeit und kriminalistischen Spürsinns. Die Archive waren teils verschlossen, die Akten zumeist nicht gesichert und verzeichnet, überall behaupteten Direktoren von Krankenhäusern und Archivare, die Einzelheiten über das Leben und den Tod der Ermordeten würden »unter das Arztgeheimnis« und Angaben über die Mörder unter gesetzliche Sperrfristen fallen. Aus heutiger Sicht herrschten unvorstellbare Zustände, Geheimniskrämerei, Inkompetenz und Unwillen.
    Meine für das vorliegende Buch grundlegenden Texte stehen am Anfang des Literaturverzeichnisses. Selbstverständlich habe ich sie gründlich bearbeitet und ergänzt, den gesinnungsethisch motivierten, manchmal etwas lauten Ton ins Wohltemperierte abgesenkt. Ganze Textteile sind gestrichen. Nicht weil sich der Inhalt als überholt erwiesen hätte, sondern weil mir bestimmte Fragen heute weniger wichtig erscheinen. Ich verzichte auf ein allzu genaues Panorama der weit verästelten Verwaltung des Mordens, auf lokale Besonderheiten, interne Konflikte und Prioritäten, persönliche Reibereien zwischen den Verwaltern der Aktion T4 und Ähnliches. Desgleichen erscheint mir das penible Nachzeichnen der späteren Karrieren, der Ausflüchte, des fehlenden Schuldbewusstseins der Mörder weniger bedeutsam als noch vor 30 Jahren. All das hat sich inzwischen

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