Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Eigentümer nutzte sie als Nationalpolitische Erziehungsanstalt mit der Absicht, darin kerngesunde, begabte, durch und durch deutsche Knaben aus allen Schichten des Volkes zur künftigen Elite heranzubilden. Zuvor hatte die Regierung einige Hundert Patienten in andere Anstalten verlegen und 508 arbeitsunfähige Männer und Frauen in die Gaskammer überstellen lassen.
Seit 1949 dient die Anlage wieder ihrem vorherigen Zweck. Zunächst trug sie die 1942 in Mode gebrachte Bezeichnung Psychiatrisches Landeskrankenhaus. Heute heißt sie Zentrum für Psychiatrie, allerdings mit dem für die Gegenwart bemerkenswerten, der ursprünglichen Idee verpflichteten Beinamen »Fachkrankenhaus und psychiatrisches Pflegeheim«. Nicht alle Kranken sind heilbar. Viele bedürfen weniger der Therapie als des Schutzes, umsichtiger Pflege und Zuwendung.
Einen derart demütigen, nicht therapieversessenen Anspruch im Namen einer heutigen Klinik zu dokumentieren, spricht für die Direktion – und zu dieser gehörte viele Jahre lang der Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten Heinz Faulstich. Auf dessen Arbeiten habe ich mich auf den vorangegangenen Seiten immer wieder berufen. Als Arzt entwickelte Faulstich sein Interesse an der Geschichte erst der lokalen und dann der deutschen Psychiatrie. Mit seinen beiden groß angelegten Alterswerken über die badischen Heil- und Pflegeanstalten bis 1945 und über das mit Arzneigiften beschleunigte Hungersterben in den deutschen Anstalten erweiterte er die Kenntnisse über die Grundlagen und Praktiken der Euthanasiemorde maßgeblich.
Aus seiner ärztlichen Erfahrung wusste dieser Historiker, dass die Angehörigen der zwischen 1939 und 1945 ermordeten Kranken nicht generell in den Status von Mitopfern erhoben werden können. »Das Verbleiben eines Menschen in der Psychiatrie«, so resümierte er, »hängt nicht selten auch davon ab, ob ihn draußen noch jemand erwartet oder zurückhaben will. In der damaligen Zeit konnte das Sichabwenden tödliche Folgen haben.« [442] Solche Sätze geben den Arbeiten von Heinz Faulstich einen ganz eigenen Ton.
In unmittelbarer Nachbarschaft zur Reichenau, in Konstanz, erregten 1983 überraschend 192 Urnen allgemeines Aufsehen. Ein Beamter des städtischen Friedhofs hatte sie im Keller der Aussegnungshalle gefunden, und darauf standen die Namen von Menschen, die fast alle Opfer der Aktion T4 geworden waren. [443] Nicht aus Nachlässigkeit waren die Urnen mehr als 40 Jahre lang unbeachtet in dem dunklen Gelass geblieben. Vielmehr hatte der Bürgermeister seinerzeit die Weisungen des Deutschen Gemeindetags vom 3. April 1940 befolgt, die sterblichen Reste für die Angehörigen bereitzuhalten.
Die Toten, auf deren Namen die Urnen lauten, waren vergast, verbrannt und später fast endgültig aus den öffentlichen und privaten Gedächtnissen getilgt worden. Mehr als 40 Jahre lang hatte niemand nach ihnen gefragt. Erst 1983 wurden sie aus der Anonymität erlöst, als Personen mit ihrem Leiden und Sterben gewürdigt. Die Toten stammten aus einem Umkreis von etwa 100 Kilometern, von der deutschen und österreichischen Seite des Bodensees, aus dem Hegau, dem Allgäu, aus Vorarlberg und Westtirol. [444] Am Ende wurden sie beigesetzt und erhielten Grabsteine mit ihren Namen und Lebensdaten. Das unterscheidet sie von fast allen anderen Opfern der Aktion T4. Dass es schließlich dazu kam, war nicht den Anverwandten der Ermordeten zu verdanken, sondern den Stadträten von Konstanz – beflügelt vom Wandel des vergangenheitspolitischen Klimas, der zu Beginn der 1980er-Jahre in Deutschland eingesetzt hatte.
Die vergessenen Urnen weisen auf die unmittelbaren Mörder, zudem auf die Mittäterschaft des Konstanzer NS-Bürgermeisters und seiner nachgeordneten Beamten. Deren konformes Verhalten steht beispielhaft für alle, wirklich alle, deutschen Städte, größeren Friedhofsämter, Regional- und Ministerialverwaltungen jener Zeit. Dazu zählten auch Tausende Amtsärzte, Klinikdirektoren, Stationsärzte, Professoren, Fürsorgerinnen und Hebammen. Von minimalen Ausnahmen abgesehen, funktionierten sie reibungslos. Längst nicht alle fallen unter die oft benutzte, jedoch wichtige Fragen menschlichen Verhaltens verdeckende Kategorie des »Nazitäters« oder des »Rasseideologen«.
Für jeden vierten der Ermordeten konnten die Absender der Urnen, das Verwaltungspersonal der Todeszentren, aus den Akten nicht angeben, wo nahe Verwandte wohnten und ob es sie überhaupt
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