Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
gab. Deshalb vermerkten sie »Angehörige unbekannt«. Warum die bekannten Anverwandten, die vom Tod ihres Familienmitglieds informiert wurden, die Urnen nicht abholten und beisetzen ließen, wissen wir nicht. Viele werden schon vorher den Kontakt zu ihrem in der Anstalt verschwundenen Familienmitglied abgebrochen oder nur sporadisch als lästige Pflicht wahrgenommen haben. Andere wollten nicht an ihrem schlechten Gewissen rühren, wieder andere werden das Angebot, die Urne – gebührenfrei – entgegenzunehmen, für den teuflischen Witz eines mörderischen Staats gehalten oder sich des Toten geschämt haben. Womöglich ahnten nicht wenige, dass die Asche in dem Tongefäß mit einiger Wahrscheinlichkeit von einem anderen Ermordeten stammte. Wieder andere wussten nicht, wohin mit der Urne, weil die Feuerbestattung in katholisch geprägten Gegenden noch verpönt war. Vermutlich verteilten sich die Motive nicht auf die einzelnen Anverwandten, sondern mischten sich in deren Halbbewusstem und erzeugten reaktive Starre.
Weil so viele Urnen nicht allein in Konstanz, sondern allerorten verwaist blieben, begannen die Verwalter der Aktion T4 nach einiger Zeit, den Versand zu filtern. Hinfort verschickten sie die Aschepakete nicht mehr automatisch an das für Urnenbestattungen zugelassene, zuständige Friedhofsamt, sondern fragten bei den Angehörigen nach: »Falls Sie die Urne auf einem bestimmten Friedhof beisetzen lassen wollen – die Überführung erfolgt kostenlos –, bitten wir Sie unter Beifügung einer Einverständniserklärung der betreffenden Friedhofsverwaltung um Nachricht. Sollten Sie uns diese innerhalb 14 Tagen nicht zusenden, werden wir die Beisetzung anderweitig veranlassen.« [445]
Wie das Dokument belegt, verhielten sich die Konstanzer Friedhofsinspektoren zwischen 1941 und 1983 nur auf den ersten Blick hin nachlässig und herzlos. In Wahrheit hatten sie sich einen Rest von Pietät bewahrt. Denn nicht abgeholte Urnen standen zur Zeit des Nationalsozialismus und noch danach zu Tausenden in den Abstellkammern städtischer Friedhöfe. Die dort Verantwortlichen hatten das Problem offenbar anders gelöst als die Kollegen am Bodensee und die Aschenreste auf diskrete Weise, ohne öffentliches Aufheben früher entsorgt – von niemandem beanstandet.
Die mitbeteiligten Angehörigen
Als sozialgeschichtliches Dokument verstanden, bezeugen die Konstanzer Urnen das Nichtverhalten, die Ratlosigkeit, die Gleichgültigkeit und die Kontaktabbrüche naher Verwandter. Statistisch abgesicherte Schlüsse lassen sich darauf nicht stützen, jedoch zwingt die zufällig ans Licht gekommene Geschichte zur Skepsis gegenüber all jenen, die aus Einzelfällen ableiten, es habe einen starken gesellschaftlichen und familiären Widerstand gegen die Morde an psychisch Kranken und Behinderten gegeben. So fand ich beispielsweise in den Akten der Zwischenanstalt Neuruppin nur drei Briefe, die als Proteste gewertet werden können. Die Akten sind unvollständig überliefert; ich habe sie gründlich, jedoch nicht systematisch nach Stellungnahmen von Angehörigen ausgewertet. Doch ein Ergebnis ergibt sich aus den Neuruppiner Dokumenten zweifelsfrei: Der Aufenthalt der zur Ermordung bestimmten Patienten in der Zwischenanstalt sollte entschlossenen Eltern, Geschwistern und Ehepartnern eine Interventionsfrist verschaffen. Wer sie mit Entschiedenheit nutzte – und das geschah sehr selten –, konnte seinen hirnverletzten Ehemann, seine geistig behinderte Tochter, seinen schizophrenen Bruder oder den verwirrten Schwiegervater vor dem Tod bewahren.
Verstörend wirken die Aussagen jener Hamburger Eltern, die zwischen 1942 und 1945 ausdrücklich die suggestiv gestellte Frage bejahten, ob ihr behindertes Kind einer »mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich endenden, vielleicht jedoch hilfreichen Therapie« unterzogen werden sollte. Diese Beispiele korrespondieren mit den Resultaten, die Ewald Meltzer mit seiner Umfrage von 1920 gewonnen hatte. Doch können sie nicht als repräsentativ gelten. Die Ärzte in den Kinderfachabteilungen des Reichsausschusses verfuhren viel zu unterschiedlich, und ohne Frage führten sie Hunderte Mütter und Väter hinters Licht, töteten Hunderte Kinder gegen den erklärten Willen ihrer Eltern. [446] Das scheint in Hamburg nicht so gewesen zu sein. Am Beispiel des Arztes Hermann Knigge, der die Abteilung des Reichsausschusses in Langenhorn leitete, lässt sich zeigen, dass er die Eltern regelmäßig
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