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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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Möglichkeiten des regelmäßigen und schützenden Kontakts der Familien zu ihren hilfsbedürftigen, in Anstalten untergebrachten Sorgenkindern und Sorgenerwachsenen. All das nutzten die Organisatoren der Euthanasiemorde aus.

    Die Behauptung Heydes, dass lediglich zehn Prozent der Familien im Fall der Deportation und des gewaltsamen Todes eines ihrer Mitglieder protestiert hätten, erscheint plausibel. Über die innere Haltung und das praktische Verhalten der Angehörigen, die nicht schriftlich protestierten, ist damit nicht alles ausgesagt. Doch schloss Heyde daraus: »In 80 Prozent der Fälle sind die Angehörigen einverstanden, 10 Prozent sind gleichgültig.« Genaue Anhaltspunkte konnte er dafür kaum haben. Möglicherweise stützte er sich einfach auf die rechtfertigend immer wieder herangezogene Umfrage Meltzers, die das Einverständnis zur »schmerzlosen Abkürzung des Lebens« eines behinderten Kindes von 73 Prozent der Befragten ergeben hatte.
    Wie auch immer, wichtiger erscheinen die Umstände, unter denen Heyde im April 1941 diese Feststellung traf, und die Zwecke, die er mit seiner Statistik verfolgte: Im Vollgefühl des Erfolgs präsentierte er die Ergebnisse und auch einige – selbstverständlich behobene – Schwierigkeiten den versammelten Generalstaatsanwälten und Oberlandesgerichtspräsidenten des Reiches. Ihnen musste er erklären, dass die Aktion T4 mit dem Rechtsempfinden des Volkes harmoniere. Bemerkenswerterweise vermied Heyde das Wort Zustimmung und sprach stattdessen von Einverständnis, ein Verhalten, das keine eigene Aktivität voraussetzt, das eher ein Kopfnicken und fließende Übergänge zur Gleichgültigkeit bezeichnet. Modifiziert man Heydes Satz, »80 Prozent der Angehörigen sind einverstanden«, und sagt stattdessen, »80 Prozent der betroffenen Angehörigen nahmen die Morde hin«, spricht einiges für diese Feststellung. Wobei auch das Wort Hinnahme ein undeutliches Verhalten beschreibt, das sich in vielerlei Formen äußert. Angesichts der standardisierten Nachricht vom Tod ihres nicht immer angenehmen Ehemanns mochte die eine Ehefrau gemurmelt haben, »vielleicht war es für ihn besser so«, und die andere: »Jetzt haben sie ihn totgespritzt, die da oben machen mit uns sowieso, was sie wollen.«
    Für eine solche Interpretation spricht, dass Heyde, Nitsche, Linden, Hefelmann, de Crinis, Brack und die anderen leitenden Funktionäre der Aktion T4 zu keinem Zeitpunkt mit fast uneingeschränktem Einverständnis rechneten. Vielmehr setzten sie alles daran, den Angehörigen psychologische Brücken dafür zu bauen, dass sie wegsehen, sich einen natürlichen Tod des Ermordeten einreden und diesen schweigend hinnehmen konnten.
    Um die zumindest christlich vorgeprägte Moral der Beteiligten nicht zu überfordern, legitimierten die Organisatoren der Aktion T4 ihr Tun informell für diejenigen, die auf staatlicher und ärztlicher Seite arbeitsteilig daran mitwirkten, mit einem nichtveröffentlichten Gesetz. Zugleich schirmten sie das Morden nach außen ab. Damit eröffneten sie den Angehörigen den Ausweg zwischen Nichtwissenwollen und Nichtwissenmüssen. Sofern Widerstand auftrat, reagierte die politische Führung sensibel und beschwichtigend. Für sie kam es allein darauf an, dass der Protest Einzelner privat oder amtsintern blieb und nicht zum öffentlichen Skandal wurde.

Im Bannkreis des Bösen
    Will man die innere Dynamik des nationalsozialistischen Staats begreifen, müssen die gesellschaftlichen Dunkelzonen, die jenseits aller Ideologie bestanden, ins Auge gefasst werden. Die Morde an zunächst 70000 psychisch Kranken waren bis zum Sommer 1941 leichter vonstattengegangen, als die Organisatoren anfangs erwartet hatten. Oft wird gesagt, jene Männer von der Aktion T4, die erst Behinderte mittels Gas ermordeten und dann Juden, hätten die Euthanasiemorde zum Vorlauf des Holocaust werden lassen. Damit wird jedoch der entscheidende Zusammenhang hinter technischen und personellen Kontinuitäten verdeckt. Der Fall liegt weniger bequem.
    Vor allem lehrte die Aktion T4 ihre Initiatoren: Ein solches Großverbrechen kann mitten in Deutschland durchgeführt werden. Weil die Deutschen den Mord an den eigenen Volksgenossen hinnahmen, gewannen die führenden Politiker die Zuversicht, sie könnten noch größere Verbrechen ohne bedeutenden Widerspruch begehen. Wer zulässt, dass die eigene an Schizophrenie leidende Tante in der Gaskammer stirbt oder der fünfjährige spastisch gelähmte

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