Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
privater Basis, fanden im verlegerischen Kollektiv des Rotbuch Verlags engagierte Förderer und konnten für die Reihe mehr als 2000 Abonnenten gewinnen.
Während ich an inhaltlich weiter gespannten Projekten arbeitete und immer wieder überlegte, ob ich mich fortgesetzt mit solchen trüben Themen im Tiefparterre der deutschen Geschichte beschäftigen solle, veröffentlichte ich in dieser Reihe und an anderen Orten Quellen und Texte zur NS-Medizin, begleitete und beriet die Arbeitsgruppe, die die Geschichte der Wittenauer Heilstätten in Berlin erforschte. 1988/89 folgte gemeinsam mit Christian Pross die Ausstellung »Der Wert des Menschen – Medizin in Deutschland 1918–1945«. Auftraggeber war die plötzlich von einer linken Mehrheit geführte Ärztekammer Berlin, allerdings »in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer«, wie die sorgfältig austarierte Formel lautete. Zum ersten Mal stand auf einem Deutschen Ärztetag, dem 92., im Mai 1989 das Thema Medizin im Nationalsozialismus auf der Tagesordnung, mit unserer Ausstellung, einem Symposium und einem dicken, im Geist der Zeit schwarz eingebundenen Begleitband.
Zuvor, im Sommer 1987, hatte ich zusammen mit der Berliner Geschichtswerkstatt eine Ausstellung zur Aktion T4 konzipiert. Sie wurde am 1. September am organisatorischen Ort des Verbrechens, auf dem Gelände der einstigen Tiergartenstraße 4, eröffnet. Das Grundstück gehört heute teils zum Vorplatz, teils zum Baugrund der Berliner Philharmonie. Historisch beziehungsvoll benutzten wir als Ausstellungsraum einen alten, entkernten Doppeldeckerbus der Berliner Verkehrsgesellschaft. Während der Arbeit an der Ausstellung entstand ein heftiger Konflikt. Auf der Tafel »Widerstand und Zustimmung« hatte ich die folgende seinerzeit handschriftlich niedergelegte Erklärung eines Vaters eingefügt: »Ich bin mit der Beobachtung und mit der Euthanasie bei meinem Kinde Marlene H., geb. am 17. 3. 42 in Düsseldorf, z.Zt. im Kinderkrankenhaus Weimar, einverstanden, wenn von den ärztlichen Sachverständigen angenommen wird, dass aus dem Kind ein brauchbarer Mensch nicht wird. Hans H.« [7] Einige Geschichtsaktivisten wollten das Dokument unterschlagen. Es wurde gezeigt.
Zur Eröffnung gab uns Heinz Galinski, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, die Ehre und hielt eine Rede. Der Begleitband verkaufte sich gut. Das ermutigte uns, ein Denkmal für die Ermordeten zu fordern. Klaus Hartung und ich entwarfen den Text, der schließlich mit leichten Änderungen beschlossen wurde:
»EHRE DEN VERGESSENEN OPFERN. An dieser Stelle, Tiergartenstraße 4, wurde ab 1940 der erste nationalsozialistische Massenmord organisiert, genannt nach dieser Adresse ›Aktion T4‹. Von 1939 bis 1945 wurden fast 200000 wehrlose Menschen umgebracht. Ihr Leben wurde als ›lebensunwert‹ bezeichnet, ihre Ermordung hieß ›Euthanasie‹. Sie starben in den Gaskammern von Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna, Bernburg und Hadamar, sie starben durch Exekutionskommandos, durch geplanten Hunger und Gift. Die Täter waren Wissenschaftler, Ärzte, Pfleger, Angehörige der Justiz, der Polizei, der Gesundheits- und Arbeitsverwaltung. Die Opfer waren arm, verzweifelt, aufsässig oder hilfsbedürftig. Sie kamen aus psychiatrischen Kliniken und Kinderkrankenhäusern, aus Altenheimen und Fürsorgeanstalten, aus Lazaretten und Lagern. Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter.«
In dem Text heißt es »fast 200000« Opfer, jedoch hatten wir in unserem Entwurf richtig geschrieben »mehr als 200000«. Die unangebrachte Korrektur veranlasste Reinhard Rürup, der als Experte im Auftrag des Senats von Berlin an dem Verfahren mitwirkte. Nach zwei Sitzungen mit der zuständigen Kulturverwaltung verfügte Senator Volker Hassemer (CDU) mit grüner Tinte: »Das wird jetzt so gemacht!« Am 1. September 1989 konnte die große, in den Boden vor der Philharmonie eingelassene Gedenktafel eingeweiht werden. Die Skulptur »Berlin Junction« von Richard Serra, die 1988 aus anderen Gründen in unmittelbarer Nähe aufgestellt worden war, widmete der Bildhauer den Menschen, die Opfer der Aktion T4 geworden waren.
Die Lust am Abschreiben
Obwohl ich für dieses Buch fast jeden Satz neu formuliert habe, fand ich den dokumentarischen und inhaltlichen Kern meiner alten Arbeiten frisch und überzeugend. So muss es, von mir meist unbemerkt, auch anderen ergangen sein, die im Lauf von 30 Jahren allerhand daraus abschrieben oder die
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