Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
herumgesprochen. Dasselbe gilt für häufig untätige oder übertrieben nachsichtige Gerichte. Wer darüber mehr wissen will, findet genaue, übersichtlich dargestellte Angaben in den lexikographischen Arbeiten von Ernst Klee.
Was immer über fragwürdige Urteile und Freisprüche gesagt wird, Tatsache bleibt: Viele deutsche Staatsanwälte und Kriminalbeamte untersuchten diese Verbrechen seit 1946, verstärkt in den 1960er- und 1970er-Jahren, sehr viel energischer als damalige Historiker und Journalisten. Auch das öffentliche Interesse an strafrechtlich verfolgten Tätern blieb bis zu Beginn der 1980er-Jahre gering. Seither wurden Tausende Bände Ermittlungsakten der bundesdeutschen Nachkriegsjustiz als zentrale und unverzichtbare Quelle genutzt. Die Ermordeten selbst, ihre Lebensläufe und Schicksale, gelangten erst später und sehr zögerlich ins allgemeinere Blickfeld. Insofern habe auch ich die Gewichte gegenüber älteren Texten stark verschoben.
Der Abschnitt über die Morde an Geisteskranken in den deutsch besetzten Teilen der Sowjetunion verdankt sich einem Vortrag, den ich im Jahr 2011 hielt. Er stützt sich ausnahmsweise nur auf Sekundärliteratur. Meine 1985 veröffentlichten Spekulationen zu den Gründen des vorübergehenden Stopps der Aktion T4 im Sommer 1941 revidierte ich dank der Kritik und besserer Einsicht 1993 und 1995. Angeregt von den zwischenzeitlich erschienenen Arbeiten von Heinz Faulstich und Winfried Süß habe ich dieses Kapitel noch einmal gründlich durchdacht. Dabei geht es nicht allein um den Stopp der Morde an Geisteskranken in den Gaskammern, im Hintergrund stehen allgemeinere Fragen: Wie funktionierte der NS-Staat? Wie reagierten seine Führer auf die gesellschaftlichen Stimmungslagen und Krisen? Welche Chancen hatten welche Arten von Widerstand zu welchem Zeitpunkt?
Ein gut begründeter, gescheiterter Vorschlag
Warum erscheint das Buch erst jetzt? Nach einjährigen Vorarbeiten zu den Morden an behinderten Kindern und zu dem dafür zuständigen Reichsausschuss stellte ich im Oktober 1982 den Antrag auf ein Habilitationsstipendium bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Mein geschätzter Doktorvater Wolf-Dieter Narr sollte die Arbeit betreuen. Peter Steinbach schrieb eine höchst freundliche Empfehlung. Mein Thema lautete: »Die Entwicklung wissenschaftlicher Maßstäbe zur Begutachtung und Tötung behinderter deutscher Kinder in den Jahren 1939–1945. Vorschlag zur Aufhellung eines Tabus«. Der Titel kommt mir heute etwas geschwollen vor, aber auch nicht unpassend. Schon damals reduzierte ich das Thema nicht auf »die Nationalsozialisten«; ich fragte nach dokumentierten Tatsachen und nach schwerer greifbaren Tabus. Wer den Ablauf der Euthanasiemorde geschichtlich verstehen wolle, so steht es in dem Antrag, müsse das ambivalente Verhalten vieler Angehöriger im Auge behalten und sich darüber im Klaren sein, dass der Widerstand gegen die Morde im Wesentlichen von katholisch-konservativen Kräften getragen worden sei. Das 1982 entworfene Konzept hat in diesem Buch durchaus Spuren hinterlassen.
Nach neun Monaten lehnte die DFG mein Vorhaben ab. Deren zuständiger Referent, Sylvester Rostosky, hatte sich die Sache nicht leicht gemacht und für das finanziell wenig bedeutsame Vorhaben am Ende den Hauptausschuss der DFG und zuvor fünf Gutachter bemüht: Eberhard Jäckel, Karl Dietrich Bracher, Klaus Jürgen Gantzel, Ludwig von Friedeburg und Hartmut Boockmann. Das gewissenhaft geführte Verfahren ehrt die DFG. [6]
Jäckel urteilte: »Die Darstellung des Forschungsvorhabens erscheint, für sich genommen, gut begründet. Die Erforschung der sogenannten Kindereuthanasie ist ein Desiderat, das trotz der sehr ungünstigen Quellenlage aufgegriffen werden sollte. Auch hat sich der Antragsteller recht gut in die Materie eingearbeitet. Zwar kann man bezweifeln, ob er als Politikwissenschaftler die historische Methode hinreichend beherrscht, aber dem Exposé als solchem könnte man zustimmen.« Sodann beschimpfte er meinen Betreuer Narr »als gedanklich und sprachlich anspruchslos« und gelangte zu dem Ergebnis: »Ich empfehle für mein Teil Ablehnung.«
Bracher schlug einen ähnlichen Ton an: »Das Forschungsvorhaben ist gut begründet. Es verdient Unterstützung.« Obwohl mein Entwurf auch von ihm für tadellos befunden wurde, meinte er: Aus den Unterlagen gehe »keineswegs hervor, dass der Antragsteller selbst über die notwendige Ausbildung und Fähigkeit verfügt, das
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