Die Beschenkte
oder?«
Katsa blätterte in ihren Landkarten. »Das spielt keine Rolle. Selbst wenn wir feststellen, dass er aus Nander oder Wester kommt, wissen wir nicht, wer schon im Gasthof ist oder wer sonst noch dort absteigen wird. Wir können es nicht riskieren, nicht bevor wir wissen, ob eine der Geschichten deines Vaters bis nach Sunder gedrungen ist. Wir waren wochenlang in den Bergen, Bitterblue. Wir haben keine Ahnung, was diese Leute wissen.«
»Die Geschichte wird sich kaum so weit verbreitet haben. Wir sind in einiger Entfernung von den Häfen und dem Bergpass, und dieser Ort ist ziemlich abgelegen.«
»Stimmt«, sagte Katsa, »aber wir wollen sie auch nicht mit einer Geschichte versorgen, die sie bis zum Bergpass oder hinunter zu den Häfen weitererzählen können. Je weniger Leck darüber weiß, wo wir gewesen sind, desto besser.«
»Aber dann ist kein Gasthof sicher. Dann müssen wir ungesehen von hier nach Lienid kommen.«
Katsa vertiefte sich in ihre Karten und gab keine Antwort.
»Außer du hast vor, jeden zu töten, den wir sehen«, murrte Bitterblue. »Oh Katsa, schau – da ist ein Mädchen mit Eiern. Ich würde töten für ein Ei!«
Katsa schaute auf und sah das Mädchen, das barhäuptig und zitternd mit einem Korb voll Eier am Arm von der Scheune zum Gasthof schlitterte. Der Wirt winkte ihr und rief etwas. Das Mädchen stellte den Korb am Fuß eines großen Baums ab und lief zu ihm. Er reichte ihr einen Beutel vom Wagen des Händlers, dann noch einen und noch einen, dann gab ihr der Händler einen Beutel nach dem andern, die sie über Rücken und Schultern hängte, bis Katsa sie unter dem Berg von Beuteln kaum noch sehen konnte. Das Mädchen schwankte zum Gasthof. Dann kam sie wieder heraus und wurde erneut beladen.
Katsa zählte die vereinzelten Bäume zwischen ihrem Versteck und dem Eierkorb. Sie warf einen Blick auf die erfrorenen Reste im Gemüsegarten. Dann blätterte sie wieder in den Landkarten und fand die Liste mit Kontakten des Rats in Sunder. Sie strich das Blatt auf ihrem Schoß glatt.
»Ich weiß, wo wir sind. Nicht weit von hier, vielleicht zwei Tageswanderungen entfernt, liegt eine Stadt. Raffin meint, dass dort ein Ladenbesitzer mit dem Rat sympathisiert. Ich glaube, zu ihm können wir gefahrlos gehen.«
»Dass er mit dem Rat sympathisiert«, sagte Bitterblue, »bedeutet doch nicht, dass er jede Geschichte, die Leck verbreitet, durchschaut.«
»Das ist richtig. Aber wir brauchen Kleidung und Informationen. Und du brauchst ein heißes Bad. Wenn wir nach Lienid kommen könnten, ohne jemandem zu begegnen, würden wir das tun, aber es ist unmöglich. Wenn wir schon jemandem vertrauen müssen, dann lieber einem, der mit dem Rat sympathisiert.«
Bitterblue sah verärgert aus. »Du hast ein heißes Bad genauso nötig wie ich.«
Katsa grinste. »Ich habe ein Bad genauso nötig wie du. Meins muss nicht heiß sein. Ich werde dich nicht in einen halb gefrorenen Teich stecken, damit du krank wirst und stirbst nach allem, was du überlebt hast. Und jetzt«, sagte sie, als der Händler und der Wirt selbst Säcke schulterten und zum Eingang des Gasthofs gingen, »rühr dich nicht, bis ich wieder zurück bin.«
»Wohin …«, fing Bitterblue an, doch Katsa flog schon von Baum zu Baum, versteckte sich hinter den dicken Stämmen und spähte hervor, um die Fenster und Türen des Gasthofs zu beobachten. Als Katsa und Bitterblue wenig später ihre Wanderung durch den Wald von Sunder fortsetzten, trug Katsa vier Eier in ihrem Ärmel und einen gefrorenen Kürbis auf der Schulter. An diesem Abend hatte ihre Mahlzeit etwas von einem Fest.
Als es an der Zeit war, bei dem Ladenbesitzer anzuklopfen, konnte Katsa an ihrem oder Bitterblues Äußerem wenig ändern. Sie musste sich darauf beschränken, so gut wie möglichden Schmutz von ihren Gesichtern zu wischen, Bitterblues Haargewirr in eine zopfähnliche Form zu zwingen und zu warten, bis es dunkel war. Wegen der Kälte konnte sie nicht von Bitterblue verlangen, dass sie ihren Flickenteppich aus Fellen ablegte, und Katsas Wolfsfelle, so furchtbar sie auch aussehen mochten, waren weniger abstoßend als die befleckte, zerrissene Jacke, die sie verbargen.
Der Ladenbesitzer war leicht zu finden, sein Gebäude war neben dem Gasthof das größte und betriebsamste. Er war ein Mann von durchschnittlicher Größe und Statur, hatte eine stämmige, energische Frau und eine ungeheure Zahl von Kindern, von Säuglingen bis zu Katsas Alter und noch Älteren. So
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