Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Beschenkte

Die Beschenkte

Titel: Die Beschenkte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Cashore
Vom Netzwerk:
sie nur noch zwei Dinge wahr: die Stimme des Mädchens, die weiter in ihr Ohr drang, und den Hang vor ihnen, über den sie laufen musste, immer weiter.
    Als die große rote Sonne vom Himmel sank und hinter dem Horizont zu verschwinden begann, nahm Katsa es gleichgültig zur Kenntnis. Wenn sie den Sonnenuntergang sah, bedeutete das: Es fiel kein Schnee mehr. Ja, wenn sie die Frage bedachte, konnte sie sehen, dass es tatsächlich aufgehört hatte zu schneien, auch wenn sie sich nicht erinnerte, wann. Aber der Sonnenuntergang bedeutete, dass der Tag endete. Die Nacht kam, und die Nacht war noch kälter als der Tag.
    Katsa lief weiter. Ihre Beine bewegten sich, hin und wieder sagte das Kind etwas, und sie fühlte nichts außer der Kälte, die bei jedem Atemzug in ihre Lungen stach. Und dann bemerkte sie durch den Nebel in ihrem Kopf, was sich verändert hatte.
    Sie blickte auf einen Horizont, der weit unter ihr lag.
    Sie beobachtete, wie die Sonne hinter einen Horizont weit unter ihr sank.
    Sie wusste nicht, wann sich die Aussicht verändert hatte. Sie wusste nicht, wann sie über den Bergkamm gelaufen war und den Abstieg begonnen hatte. Doch sie hatte es getan. Sie konnte die schwarzen Gipfel nicht mehr sehen, also mussten sie hinter ihr liegen. Jetzt sah sie die andere Seite des Bergs und Wälder, endlose Wälder, und die Sonne, die den Tag beschloss, während sie selbst mit dem lebendigen, atmenden Kind auf dem Rücken hinunter nach Sunder rannte. Und nicht weit vor ihr lag das Ende dieses schneebedeckten Hangs, lagen die ersten Bäume und Gestrüpp und ein Abstieg, der für das Kind viel leichter sein würde, als das Klettern bergauf gewesen war.
    Da bemerkte sie das Zittern, das heftige Zittern, und Panik ergriff sie und rüttelte ihren benommenen Geist wach. DasKind durfte jetzt nicht krank werden, nicht jetzt, wo sie der Sicherheit so nah waren. Sie griff nach hinten und packte Bitterblues Stiefel. Sie schrie ihren Namen. Doch dann hörte sie Bitterblues Stimme, die ihr etwas ins Ohr rief, und sie spürte, wie das Mädchen die Arme um ihren Oberkörper legte und sie festhielt. Unter ihren Brüsten, wo Bitterblues Arme sie umschlangen, fühlte sie plötzlich etwas anderes – Wärme, seltsame Wärme. Katsa hörte ihre eigenen Zähne klappern. Sie merkte, dass es nicht das Mädchen war, das zitterte. Sie war es selbst.
    Sie stellte fest, dass sie lachte, obwohl nichts komisch war. Wenn sie nicht einmal selbst am Leben blieb, gab es keine Hoffnung für das Kind. Sie hätte das nicht zulassen dürfen, sie war verrückt gewesen, auf diesem Weg mit ihr nach Sunder zu fliehen. Sie dachte an ihre Hände und hielt sie sich vors Gesicht. Sie spreizte die Finger und beschimpfte sich, als sie die weißen Fingerspitzen sah. Sie schob die Fäuste unter die Arme und zwang ihren Verstand, klar und genau zu denken. Ihr war kalt, zu kalt. Sie beide mussten weiter, dorthin, wo die Bäume begannen, damit sie Feuerholz und Schutz vor dem Wind finden konnten. Sie musste ein Feuer machen. Weiter, und ein Feuer machen. Und das Kind am Leben halten. Das waren ihre Bedürfnisse, das waren ihre Ziele, diese Gedanken würde sie im Kopf behalten, während sie lief.
    Bis sie die Bäume erreichten, wimmerte Bitterblue vor Taubheit und Kälte. Doch sobald Katsa auf die Knie sank, befreite sich das Mädchen aus dem Tragegeschirr. Ungeschickt zog sie die Wolfsfelle vom Rücken und wickelte sie um Katsas Körper. Dann kniete sie sich vor Katsa und zog mit aufgerissenen, blutenden Fingern an den Riemen der Schneeschuhe. Katsa richtete sich auf und half mit den Riemen. Sie kroch aus den Schneeschuhen und warf die Taschen, den Köcher, das Tragegeschirr und den Bogen ab.
    »Feuerholz«, sagte sie. »Feuerholz.«
    Das Mädchen zog die Nase hoch, nickte, wankte unter den Bäumen umher und sammelte ein, was sie finden konnte. Das Holz, das sie zurückbrachte, war feucht vom Schnee. Katsas Finger hantierten langsam und unbeholfen mit dem Dolch, sie war ungeschickt durch das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hatte. Noch nie zuvor war es ihr schwergefallen, Feuer zu machen. Sie konzentrierte sich angestrengt, und bei ihrem zehnten oder elften Versuch entstand eine Flamme, blieb am Leben und fand eine trockene Holzecke. Katsa fütterte die Flamme mit Fichtennadeln, fächelte ihr Luft zu und beschwor sie, nicht zu sterben, bis die Feuerzunge an den Zweigen leckte, die sie zusammengelegt hatte. Die Flamme wuchs, wurde größer, rauchte und prasselte.

Weitere Kostenlose Bücher