Die Beschenkte
Informationen suchen Sie, My Lady?«, fragte der Mann. »Wir haben aus den anderen Königreichen sehr wenig gehört.«
Katsas Blick ruhte nachdenklich auf Bitterblue, die sich wie eine Wilde über Brot und Käse hermachte. »Langsam, Kind«, sagte sie geistesabwesend. Sie rieb sich den Kopf, überlegte und versuchte zu entscheiden, wie viel sie dieser Familie aus Sunder erzählen konnte. Einiges mussten sie wissen; und was den Einfluss von Lecks nächsten Täuschungen am besten zunichtemachen konnte, war die Wahrheit.
»Wir kommen aus Monsea«, sagte Katsa. »Wir haben die Berge an Grellas Pass überquert.«
Dieser Satz wurde mit Schweigen und großen Augen aufgenommen. Katsa seufzte.
»Wenn Sie das schon nicht glauben können«, sagte sie, »werden Sie den Rest unserer Geschichte völlig unglaubwürdig finden. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll.«
»Fang mit Lecks Gabe an«, sagte Bitterblue, mit dem Mund voll Brot.
Katsa beobachtete, wie sie sich die Krümel von den Fingern leckte. Bitterblue sah aus, als fiele sie in einen Zustand der Verzückung, den noch nicht einmal die Geschichte überden Verrat ihres Vaters stören konnte. »Nun gut«, sagte Katsa. »Fangen wir mit Lecks Gabe an.«
An diesem Abend nahm Katsa nicht ein Bad, sondern zwei Bäder. Das erste, um den Schmutz zu lösen und die oberste Dreckschicht abzuschälen, das zweite, um richtig sauber zu werden. Bitterblue tat das Gleiche. Der Ladenbesitzer, seine Frau und seine beiden ältesten Kinder bewegten sich leise und gewandt, sie pumpten Wasser, erhitzten es, leerten die Wanne und verbrannten die alten, zerfetzten Kleidungsstücke. Dann brachten sie neue Sachen, Jungenkleidung, und ließen ihre Gäste sie anprobieren, holten Mützen, Jacken, Schals und Handschuhe aus ihren Schränken und aus dem Laden, schnitten Bitterblues Haar so, wie Jungen es trugen, und kürzten Katsas Haar, damit es nicht mehr so vom Kopf abstand.
Wieder sauber zu sein war ein erstaunliches Gefühl. Katsa konnte gar nicht zählen, wie oft sie Bitterblues leise Seufzer hörte, Seufzer vor Glück über die Wärme und Sauberkeit, über das Waschen mit Seife, den Brotgeschmack im Mund und das Brotgefühl im Magen.
»Ich fürchte, heute Nacht bekommen wir nicht viel Schlaf«, sagte Katsa. »Wir müssen morgen sehr früh das Haus verlassen, bevor der Rest der Familie aufwacht.«
»Und du glaubst, dass mir das etwas ausmacht? Dieser Abend war reine Glückseligkeit. Dagegen ist Schlafmangel gar nichts.«
Dennoch schlief Bitterblue erschöpft ein, sobald sie und Katsa sich zum ersten Mal nach sehr langer Zeit in ein Bett legten – das Bett des Ladenbesitzers und seiner Frau, obwohlKatsa gegen dieses Opfer protestiert hatte. Katsa lag auf dem Rücken und bemühte sich, aus dem ruhigen Atemrhythmus ihrer Bettnachbarin und den weichen Matratzen und Kissen nicht den Schluss zu ziehen, sie seien in Sicherheit. Sie dachte an die Lücken, die sie in ihrer Version der Geschichte gelassen hatte.
Die Familie des Ladenbesitzers verstand jetzt das Grausen, das König Lecks Gabe auslöste. Sie verstanden Ashens Mord und die Ereignisse um die Entführung von Großvater Tealiff. Sie vermuteten, dass dieses Mädchen, das Brot und Käse aß, als hätte es beides nie zuvor gesehen, die Prinzessin von Monsea auf der Flucht vor ihrem Vater war, obwohl Katsa es ihnen nicht ausdrücklich gesagt hatte. Sie hatten sogar begriffen, dass ihr Verstand all diese Wahrheiten wieder leugnen könnte, wenn Leck in Sunder eine falsche Geschichte verbreiten würde. Über all das staunte die Familie, akzeptierte und verstand es.
Katsa hatte eine Wahrheit ausgelassen und eine Lüge erzählt. Verschwiegen hatte sie das Ziel ihrer Reise. Leck könnte diese Familie so verwirren, dass sie zugab, Katsa und die Prinzessin aufgenommen zu haben. Doch er konnte sie nicht dazu bringen, ein Ziel zu verraten, das sie nicht kannte.
Gelogen hatte Katsa mit der Behauptung, der Prinz aus Lienid sei tot, von Lecks Wachen umgebracht, als er versuchte, den König von Monsea zu töten. Katsa nahm an, dass diese Lüge überflüssig war, die Familie würde nie Gelegenheit haben, davon zu erzählen. Dennoch würde sie, wo immer es möglich war, von Bos Tod berichten. Je mehr Menschen glaubten, er sei nicht mehr am Leben, umso weniger würden ihn suchen und ihm etwas antun wollen.
Jetzt mussten sie zu den Hafenstädten von Sunder. Sie würden nach Süden reiten, dann nach Westen segeln. Doch während sie neben
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