Die Beschenkte
Sinn hatte. Sie würde die Ängste des armen Mannes rasch zerstreuen, und vielleicht konnte sie behaupten, sie fühle sich nicht wohl genug, um die ganze Mahlzeit durchzustehen. Sie könnte sagen, sie habe Kopfweh. Sie wünschte, sie könnte Raffins Kopfwehmittel benutzen und ihr Haar blau färben. Das würde sie eine Zeit lang von Randas Abendessen befreien.
Raffin erschien wieder ein Stockwerk über ihr auf dem Laubengang, der an seinen Arbeitsräumen vorbeiführte. Er beugte sich über das Geländer und rief hinunter: »Kat!«
»Was ist?«
»Du siehst aus, als hättest du dich verirrt. Hast du den Weg zu deinen Zimmern vergessen?«
»Ich lasse mir Zeit.«
»Wie lange? Ich würde dir gern ein paar meiner neuen Entdeckungen zeigen.«
»Man hat mir gesagt, ich soll mich zum Abendessen hübsch machen.«
Er grinste. »Dann wird es ja noch eine Ewigkeit dauern.«
Sie verzog ihr ernstes Gesicht zum Lachen, riss einen Knopf von ihrer Tasche und schleuderte ihn nach Raffin. Er schrie schrill auf, ließ sich zu Boden fallen und der Knopf schlug genau dort, wo er gestanden hatte, an die Wand. Als Raffin wieder übers Geländer spähte, stand sie grinsend im Hof, die Hände auf die Hüften gestemmt. »Ich habe dich absichtlich verfehlt!«
»Du Angeberin! Komm, wenn du Zeit hast.« Er winkte und ging hinein.
Und da nahm die schattenhafte Figur in Katsas Augenwinkel Gestalt an.
Er stand ein Stockwerk über ihr links in dem Laubengang, der dort endete, wo der von Raffin begann. Er stützte die Ellbogen aufs Geländer, sein Hemdkragen war offen, und er beobachtete sie. Die goldenen Reife in seinen Ohren und die Ringe an seinen Fingern. Dazu sein dunkles Haar. Auf seiner Stirn war ein winziger Striemen zu sehen, direkt neben dem Auge.
Seine Augen! Nie hatte Katsa solche Augen gesehen. Eins war silbern, das andere golden. Sie leuchteten ungleichmäßig und seltsam in seinem sonnengebräunten Gesicht. Katsa warüberrascht, dass sie bei ihrer ersten Begegnung in der Dunkelheit nicht geleuchtet hatten. Sie wirkten nicht menschlich. Katsa konnte nicht aufhören, sie anzusehen.
Da kam ein Diener zu ihm und sprach ihn an. Er richtete sich auf, wandte sich dem Mann zu und antwortete. Als der Diener wegging, blitzten die Augen des Lienids wieder Katsa an. Er stützte die Ellbogen erneut aufs Geländer.
Katsa war bewusst, dass sie mitten im Hof stand und diesen Lienid anstarrte. Sie wusste, dass sie weitergehen sollte, und merkte, dass sie es nicht konnte.
Dann zog er ganz schwach die Augenbrauen hoch, und sein Mund öffnete sich zu einem angedeuteten Grinsen. Er nickte ihr kaum sichtbar zu, und das löste den Bann.
Großspurig, dachte sie. Großspurig und arrogant war er, und das war alles, was man von ihm sagen konnte. Welches Spiel er auch trieb, falls er erwartete, dass sie dabei mitmachte, würde er enttäuscht. Greening Grandemalion, also wirklich!
Sie riss den Blick von seinen Augen los, schob ihre Taschen höher und zwang sich voran ins Schloss, dabei war sie sich die ganze Zeit dieser seltsamen Augen in ihrem Rücken bewusst.
Helda hatte um die gleiche Zeit mit ihrer Arbeit in Randas Kinderzimmern begonnen, in der Katsa anfing, Randas Strafen zu vollziehen. Es war schwer zu sagen, warum Helda sich weniger als andere vor Katsa gefürchtet hatte. Vielleicht, weil sie selbst ein beschenktes Kind geboren hatte. Kein Kämpfer, nur ein Schwimmer, eine Gabe ohne Nutzen für den König. Deshalb war der Junge nach Hause geschickt worden und Helda hatte erlebt, wie die Nachbarn ihn mieden und verspotteten, nur weil er sich wie ein Fisch durchs Wasser bewegen konnte. Oder weil er ein schwarzes und ein blaues Auge hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Helda sich mit ihrer Meinung zurückgehalten hatte, wenn die Diener sie vor der Nichte des Königs warnten.
Natürlich war Katsa zu alt für ein Kindermädchen gewesen, als Helda kam, und Helda hatte mit den Kindern des Hofs genug zu tun gehabt. Doch sie war zu Katsas Übungsstunden gekommen, wann immer sie konnte. Sie hatte dagesessen und das Kind beobachtet, das so auf eine Strohpuppe einschlug, dass die Spreu aus den Rissen im Sack brach und auf den Boden schlug wie spritzendes Blut. Siewar nie lange geblieben, weil sie immer wieder zu den Kinderzimmern zurückmusste, doch Katsa hatte sie trotzdem bemerkt wie jeden, der nicht versuchte, sie zu meiden. Sie hatte sie wahrgenommen, sich aber nicht weiter damit aufgehalten. Katsa hatte keinen Grund, sich mit einer Dienerin
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