Die Beschenkte
zu befassen.
Doch eines Tages war Helda gekommen, als Oll nicht da war und Katsa sich allein im Übungsraum befand. Und als das Kind eine Pause eingelegt hatte, um eine neue Strohpuppe aufzustellen, hatte Helda mit ihr geredet.
»Am Hof heißt es, Sie seien gefährlich, My Lady.«
Katsa betrachtete die alte Frau einen Moment, das graue Haar, die grauen Augen und die weichen Arme, die sie über einem weichen Bauch gefaltet hatte. Die Frau hielt ihrem Blick stand, wie es keiner außer Raffin, Oll oder dem König tat. Dann zuckte Katsa die Schultern, schwang einen Sack Spreu auf den Rücken und hängte ihn an einen Haken an dem Holzpfahl mitten im Übungsraum.
»Der erste Mann, den Sie getötet haben, My Lady«, sagte Helda, »dieser Cousin. Wollten Sie ihn töten?«
Das war eine Frage, die ihr noch niemand gestellt hatte. Wieder schaute das Mädchen der Frau ins Gesicht, und wieder hielt die Frau dem Blick stand. Katsa spürte, dass diese Frage von einer Dienerin unpassend war. Doch sie wurde so selten angesprochen, dass sie nicht wusste, wie sie richtig reagieren sollte.
»Nein«, sagte Katsa. »Ich wollte ihn nur davon abhalten, mich anzufassen.«
»Dann sind Sie für Leute, die Sie nicht mögen, gefährlich, My Lady. Aber vielleicht ist ein Freund bei Ihnen sicher.«
»Deshalb verbringe ich meine Tage in diesem Übungsraum«, sagte Katsa.
»Um Ihre Gabe zu beherrschen. Ja, alle Beschenkten müssen das.«
Diese Frau wusste etwas über die Beschenkten und fürchtete sich nicht, das Wort zu gebrauchen. Für Katsa war es Zeit, wieder mit dem Training zu beginnen, doch sie wartete in der Hoffnung, die Frau würde noch etwas sagen.
»My Lady«, sagte Helda, »darf ich Ihnen eine neugierige Frage stellen?«
Katsa wartete. Sie konnte sich keine Frage denken, die neugieriger als die bereits gestellte war.
»Wer sind Ihre Dienerinnen, My Lady?«, fragte Helda.
Katsa überlegte, ob diese Frau sie in Verlegenheit bringen wollte. Sie richtete sich auf und schaute ihr direkt ins Gesicht; sie wollte sehen, ob die andere zu lächeln wagte. »Ich habe keine Dienerinnen. Wenn mir eine zugeteilt wird, quittiert sie meistens den Dienst am Hof.«
Helda lächelte oder lachte immer noch nicht. Sie schaute Katsa nur prüfend an. »Haben Sie irgendwelches weibliches Personal, My Lady?«
»Nein, das habe ich nicht.«
»Hat jemand mit Ihnen über die Blutungen der Frauen gesprochen oder wie es ist zwischen einem Mann und einer Frau?«
Katsa wusste nicht, was sie meinte, und sie hatte das Gefühl, diese alte Frau merkte das. Noch immer lächelte oder lachte Helda nicht. Sie betrachtete Katsa von oben bis unten.
»Wie alt sind Sie, My Lady?«
Katsa hob das Kinn. »Ich bin fast elf.«
»Und Sie sollen das alles allein lernen«, sagte Helda, »und durchs Schloss stürmen wie ein wildes Tier, weil Sie nicht wissen, was Sie da angegriffen hat.«
Katsa hob das Kinn noch etwas mehr. »Ich weiß immer, was mich angreift.«
»Mein Kind«, sagte Helda, »My Lady, würden Sie mir erlauben, Ihnen gelegentlich zu Diensten zu sein? Wenn Sie mich brauchen und wenn meine Anwesenheit in den Kinderzimmern nicht erforderlich ist?«
Katsa dachte, in den Kinderzimmern müsste die Arbeit sehr schwer sein, wenn diese Frau stattdessen ihr dienen wollte. »Ich brauche keine Dienerin«, sagte sie. »Ich kann dich aus den Kinderzimmern versetzen lassen, wenn du dort unglücklich bist.«
Jetzt glaubte Katsa ein schwaches Lächeln zu sehen. »Ich bin gern in den Kinderzimmern«, sagte Helda, »aber ich danke Ihnen, My Lady. Und verzeihen Sie mir, wenn ich jemandem wie Ihnen widerspreche. Aber Sie brauchen wirklich eine Dienerin, eine Frau. Weil Sie weder Mutter noch Schwestern haben.«
Katsa hatte auch noch nie eine Mutter oder Schwester gebraucht. Sie wusste nicht, was man mit einer Dienerin machte, die einem widersprach. Randa würde vermutlich einen Wutanfall bekommen, aber sie hatte Angst vor ihren eigenen Wutanfällen. Sie hielt den Atem an, ballte die Fäuste und stand still wie der Holzpfahl mitten im Raum. Die Frau konnte sagen, was sie wollte. Das waren nur Worte.
Helda richtete sich auf und strich ihr Kleid glatt. »Ich werde gelegentlich in Ihre Räume kommen, My Lady.«
Katsas Gesicht war wie aus Stein gehauen.
»Wenn Sie je eine Unterbrechung bei den festlichen Essen Ihres Onkels wünschen, können Sie immer zu mir in mein Zimmer kommen.«
Katsa blinzelte. Sie hasste diese Abendessen, wo jeder sie verstohlen ansah, und sie hasste
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