Die Beschenkte
hatte dabei Wache gestanden, so dass jeder, der unverhofft während Raffins Nachforschungen auftauchte, beim Anblick ihrer kleinen, drohenden Gestalt davoneilte. Raffin und Katsa hatten ihre Wohnräume so gewählt, dass ein Gang sie verband und ein weiterer Raffin in die wissenschaftlichen Bibliotheken führte.
Manche Gänge waren geheim und manche kannte der ganze Hof. Der in Raffins Arbeitsräumen war geheim. Er führte von einem Wandschrank in einem winzigen hinteren Alkoven eine Treppe hinauf zu einem kleinen Raum zwischen zwei Geschossen des Schlosses. Das Zimmer war fensterlos, dunkel und muffig, doch es war der einzige Ort im Schloss, von dem sie sicher waren, dass niemand ihn finden würde, und dem Raffin und Bann die meiste Zeit so nah sein konnten.
Bann war seit vielen Jahren Raffins Freund, ein junger Mann, der als Knabe in den Bibliotheken gearbeitet hatte, wo Raffin eines Tages über ihn gestolpert war. Die beiden Kinder hatten miteinander über Kräuter und Heilmittel geredet und darüber, was geschah, wenn man die zermahlene Wurzeleiner Pflanze mit der zerriebenen Blüte einer anderen mischte. Katsa war verblüfft gewesen, dass es mehr als einen Menschen in den Middluns gab, der solche Sachen interessant genug fand, um darüber zu reden. Und es hatte sie erleichtert, dass Raffin außer ihr noch jemanden gefunden hatte, den er langweilen konnte. Kurz danach hatte Raffin um Banns Hilfe bei einem bestimmten Experiment gebeten, und von da an hatte er Bann gewissermaßen für sich entwendet. Bann war Raffins Assistent bei allem. Während der alte Lienid geschlafen hatte, war entweder Raffin oder Bann stets an seiner Seite gewesen.
Raffin führte Katsa und Bo mit einer Fackel in der Hand durch die Tür im Wandschrank. Sie schlüpften die Treppe hinauf zum geheimen Zimmer.
»Hat er etwas gesagt?«, fragte Katsa.
»Nichts«, sagte Raffin, »außer dass sie ihm die Augen verbunden hatten, als sie ihn entführten. Er ist immer noch sehr schwach. Er scheint sich offenbar an nicht viel erinnern zu können.«
»Wissen Sie, wer ihn entführt hat?«, fragte Bo. »War Murgon verantwortlich?«
»Das glauben wir nicht«, sagte Katsa, »aber mit Bestimmtheit wissen wir nur, dass Randa es nicht war.«
Die Treppe endete an einer Tür. Raffin hantierte mit einem Schlüssel.
»Randa weiß nicht, dass er hier ist«, sagte Bo. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Nein«, erwiderte Katsa. »Randa darf es nie erfahren.«
Jetzt öffnete Raffin die Tür und sie drängten sich in den winzigen Raum. Bann saß neben dem schmalen Bett aufeinem Stuhl und las im schwachen Licht einer Fackel auf dem Tisch neben ihm. Prinz Tealiff lag auf dem Rücken, die Augen geschlossen und die Hände auf der Brust.
Bei ihrem Eintreten stand Bann auf. Es schien ihn nicht zu überraschen, dass Bo auf das Bett zueilte. Er trat nur zur Seite und bot ihm seinen Stuhl an. Bo setzte sich, beugte sich zu seinem Großvater und betrachtete sein schlafendes Gesicht. Er sah ihn nur an und berührte ihn nicht. Dann nahm er die Hände des Mannes, legte seine Stirn hinein und atmete langsam aus.
Katsa hatte das Gefühl, in etwas Privates einzudringen. Sie senkte den Blick, bis Bo sich wieder aufsetzte.
»Ihr Gesicht färbt sich violett, Prinz Greening«, sagte Raffin. »Sie werden ein sehr blaues Auge bekommen.«
»Bo«, sagte er, »nennen Sie mich Bo.«
»Bo. Ich hole Ihnen Eis aus dem Keller. Komm, Bann, wir holen ein paar Sachen für unsere beiden Krieger.«
Raffin und Bann verschwanden durch die Tür. Und als sich Katsa und Bo wieder Tealiff zuwandten, waren die Augen des Alten offen.
»Großvater«, sagte Bo.
»Bo?« Seine Stimme klang heiser, das Sprechen strengte ihn an. »Bo.« Er bemühte sich, die Kehle frei zu bekommen, dann lag er erschöpft einen Augenblick still. »Bei allen Meeren, Junge! Ich sollte wohl nicht überrascht sein, dich zu sehen.«
»Ich habe dich aufgespürt, Großvater.«
»Komm mit der Fackel näher, Junge«, sagte Tealiff. »Was im Namen der Lienid hast du mit deinem Gesicht gemacht?«
»Es ist nichts, Großvater. Ich habe nur gekämpft.«
»Gegen wen, ein Rudel Wölfe?«
»Gegen Lady Katsa«, sagte Bo. Er wies mit dem Kopf auf Katsa am Fuß des Bettes. »Mach dir keine Sorgen, Großvater. Es war nur ein freundschaftliches Handgemenge.«
Tealiff prustete. »Ein freundschaftliches Handgemenge! Du siehst schlimmer aus als sie, Bo.«
Bo brach in Gelächter aus. Er lachte viel, dieser Prinz. »Ich habe
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