Die Beschenkte
eigener Schmuck in den Ohren und an den Fingern schien ihm nichts auszumachen. Es mussten eitle Menschen sein, diese Lienid.
»Können Sie mit einem Pfeil töten? Oder verwunden Sie nur?«
Sie erinnerte sich an seine heisere Stimme von MurgonsHof, sie kam ihr jetzt genauso spöttisch vor wie damals. Sie drehte sich nicht um. Sie nahm einfach zwei Pfeile aus ihrem Köcher, legte sie auf die Sehne, zog und ließ los. Einer flog der Puppe in den Kopf, der andere in die Brust. Beide landeten mit einem befriedigenden dumpfen Geräusch und schimmerten blass in dem flackernden Fackellicht.
»Ich werde nie den Fehler begehen, Sie zu einem Wettkampf im Bogenschießen herauszufordern.«
In seinem Ton lag ein Lachen. Sie drehte ihm weiter den Rücken zu und legte wieder einen Pfeil auf die Sehne. »Unseren letzten Kampf haben Sie nicht so leicht verloren«, sagte sie.
»Aber nur, weil ich die gleiche kämpferische Begabung habe wie Sie. Ihr Geschick mit Pfeil und Bogen ist meinem weit überlegen.«
Wider Willen fand Katsa das interessant. Sie schaute ihn an, sein Gesicht lag im Schatten. »Ist das wahr?« Sie ließ den Pfeil fliegen und horchte auf das Geräusch, als er den Strohmann traf.
»Meine Gabe verleiht mir Geschick im Kampf Hand gegen Hand oder Schwert gegen Schwert. Mit Pfeil und Bogen hilft sie wenig.«
Er lehnte sich an eine große Steinplatte, die als Tisch für die Ausrüstung der Bogenschützen diente. Er hatte die Arme verschränkt. Sie gewöhnte sich bereits an diesen Anblick, diesen trägen Ausdruck, als könnte er im nächsten Moment einschlafen, aber das täuschte sie nicht. Wenn sie sich auf ihn stürzte, würde er rasch reagieren.
»Sie müssen also mit Ihrem Gegner ringen, um einen Vorteil zu haben.«
Er nickte. »Vielleicht teile ich Pfeile schneller aus als ein Unbeschenkter. Aber auch dann kommt es darauf an, wie gut ich ziele.«
»Hm.« Katsa glaubte ihm. Gaben waren so sonderbar, sie beeinflussten nie zwei Menschen auf die gleiche Weise.
»Können Sie ebenso gut ein Messer werfen, wie Sie einen Pfeil schießen?«, fragte er.
»Ja.«
»Sie sind unbesiegbar, Lady Katsa.« Wieder hörte sie das Lachen in seiner Stimme. Sie betrachtete ihn einen Moment, dann wandte sie sich ab und ging zu ihren Puppen. Bei einer Strohpuppe blieb sie stehen – bei der, die sie ›getötet‹ hatte – und zog die Pfeile aus den Schenkeln, der Brust, dem Kopf.
Er suchte seinen Großvater, und Katsa hatte, was er suchte. Aber er kam ihr nicht ungefährlich vor, dieser Mann. Er wirkte nicht ganz vertrauenswürdig.
Sie ging von Puppe zu Puppe und zog die Pfeile heraus. Er beobachtete sie, das spürte sie, und das Wissen um seine Augen auf ihrem Rücken trieb sie an den hinteren Rand des Schießplatzes, wo sie eine Fackel nach der anderen löschte. Als sie mit der letzten fertig war, hüllte Finsternis sie ein und sie wusste, dass sie unsichtbar war.
Dann drehte sie sich zu ihm um, sie wollte ihn im Licht vor dem Lagerraum betrachten, ohne dass er es merkte. Doch er lehnte dort, die Arme verschränkt, und starrte sie an. Er konnte sie nicht sehen, das war unmöglich – aber sein Blick war so direkt, dass sie ihn nicht erwidern konnte, auch wenn sie wusste, dass er nicht sehen konnte, wie sie ihn anstarrte.
Sie ging über den Platz und trat ins Licht, und seine Augenschienen den Fokus zu verändern. Er lächelte ihr leicht zu. Das Fackellicht fiel auf das Gold des einen Auges und das Silber des anderen. Sie sahen aus wie die Augen einer Katze oder eines seltsamen Nachtgeschöpfs.
»Sind Sie mit Nachtsicht beschenkt?«, fragte sie.
Er lachte. »Nein. Warum fragen Sie?«
Sie gab keine Antwort. Einen Moment lang schauten sie einander an. Wieder stieg die Hitze ihren Nacken hinauf und mit ihr eine Welle der Irritation. Sie hatte sich viel zu sehr daran gewöhnt, dass die Leute ihrem Blick auswichen. Er würde sie nicht durcheinanderbringen, einfach indem er sie anschaute. Sie würde das nicht zulassen.
»Ich gehe jetzt in meine Gemächer zurück«, sagte sie.
Er richtete sich auf. »Lady, ich habe Fragen an Sie.«
Nun, sie wusste, dass sie irgendwann dieses Gespräch führen mussten, und ihr war es lieber im Dunkeln, wenn seine Augen sie nicht nervös machten. Katsa zog den Köcher über ihren Kopf und legte ihn auf die Steinplatte, daneben den Bogen. »Ich höre.«
Er lehnte sich wieder an den Stein. »Was haben Sie von König Murgon gestohlen, Lady, vor vier Nächten?«
»Nichts, was König Murgon
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