Die Beschenkte
Vergleich tastete sie die andere Gesichtshälfte ab. Sie spürte keinen Unterschied und sog erleichtert die Luft ein.
»Es ist nichts gebrochen«, sagte er, »obwohl es das eigentlich sein müsste.«
»Ich habe mich zurückgehalten«, sagte sie, »als mir klarwurde, dass du dich nicht wehrst.« Sie griff nach oben und tauchte die Hände in den Wasserkrug auf dem Tisch, legte Eisstücke auf ein Tuch und wickelte sie ein. Dann drückte sie ihm das Eis aufs Kinn. »Warum hast du nicht zurückgeschlagen?«
Er drückte das Eis an sein Gesicht und stöhnte. »Das wird tagelang wehtun.«
»Bo …«
Er schaute sie an und seufzte. »Ich habe es dir schon gesagt, Katsa. Ich kämpfe nicht, wenn du wütend bist. Ich werde Meinungsverschiedenheiten zwischen uns nicht mit Gewalt klären.« Er hob das Eis an und betastete sein Kinn, stöhnte und drückte sich das Tuch wieder ans Gesicht. »Was wir in den Übungsräumen machen – das soll uns helfen. Wir benutzen es nicht gegeneinander. Wir sind Freunde, Katsa.«
Scham brannte hinter ihren Augen. Es war so elementar, sooffensichtlich. Das taten Freunde sich nicht an, und doch hatte sie es gemacht.
»Wir sind zu gefährlich füreinander, Katsa. Und selbst wenn wir es nicht wären, ist es nicht richtig.«
»Ich werde das nie wieder tun«, sagte sie. »Ich schwöre es.«
Jetzt fing er ihren Blick auf und hielt ihn. »Ich weiß, dass du das nicht tun wirst. Katsa. Wildkatze. Gib dir nicht die Schuld. Du hast erwartet, dass ich mich wehre. Sonst hättest du mich nicht geschlagen.«
Trotzdem hätte sie es besser wissen sollen. »Dabei warst du gar nicht der, der mich so wütend gemacht hat. Er war es.«
Bo betrachtete sie einen Moment. »Was würde deiner Meinung nach geschehen, wenn du dich weigern würdest zu tun, was Randa befiehlt?«
Sie wusste es nicht. Sie glaubte, dass er sie verspotten würde, mit einer Stimme, die vor Verachtung bebte. »Wenn ich nicht mache, was er sagt, wird er wütend. Wenn er wütend wird, werde ich wütend. Und dann will ich ihn töten.«
»Hmm.« Er verzog den Mund. »Du hast Angst vor deiner eigenen Wut.«
Jetzt schwieg sie und sah ihn an, weil ihr das richtig vorkam. Sie fürchtete ihre eigene Wut.
»Aber Randa ist deinen Zorn noch nicht einmal wert«, sagte Bo. »Er ist einfach nur ein brutaler Klotz.«
Katsa schnaubte. »Ein Klotz, der anderen Leuten die Finger abhackt oder ihre Arme bricht.«
»Nur, solange du es für ihn tust«, sagte Bo. »Viel von seiner Macht verdankt er dir.«
Sie fürchtete ihre eigene Wut: Sie wiederholte es in Gedanken. Sie fürchtete, was sie dem König antun würde – unddas aus gutem Grund. Sie brauchte nur Bo anzuschauen mit seinem roten Kinn, das schon anzuschwellen begann. Sie hatte gelernt, ihre Fähigkeiten zu beherrschen, doch nicht ihren Zorn. Und das bedeutete, dass sie ihre Gabe immer noch nicht beherrschte.
»Wollen wir nicht zurück an den Tisch?«, fragte er, denn sie saßen immer noch auf dem Boden.
»Du solltest wahrscheinlich zu Raff«, sagte sie. »Nur um dich zu vergewissern, dass nichts gebrochen ist.« Sie senkte beschämt den Blick. »Verzeih mir, Bo.«
Bo stemmte sich hoch, griff nach ihrer Hand und zog sie auf die Füße. »Ihnen ist verziehen, Lady.«
Sie schüttelte den Kopf, diese Güte verstand sie nicht. »Die Lienid sind so sonderbar, sie reagieren nie wie ich. Du so ruhig, wenn ich dich so schlimm verletzt habe. Deines Vaters Schwester so merkwürdig in ihrer Trauer.«
Bo kniff die Augen zusammen. »Was meinst du?«
»Womit? Ist die Königin von Monsea nicht deines Vaters Schwester?«
»Was hat meines Vaters Schwester getan?«
»Es heißt, sie hätte aufgehört zu essen, als sie vom Verschwinden deines Großvaters gehört hat. Wusstest du das nicht? Und dann hat sie sich und ihr Kind in ihren Gemächern eingeschlossen. Sie lässt niemanden herein, noch nicht einmal den König.«
»Sie lässt den König nicht herein?«, wiederholte er mit erstaunter Stimme.
»Auch sonst niemanden, außer einer Zofe, die ihnen Mahlzeiten bringt.«
»Warum hat mir das noch niemand gesagt?«
»Ich dachte, du wüsstest das, Bo. Ich hatte keine Ahnung, dass es dir so wichtig sein könnte. Hast du eine enge Beziehung zu ihr?«
Bo starrte stirnrunzelnd auf den Tisch, auf das Durcheinander von schmelzendem Eis und halb gegessenen Mahlzeiten. Er war mit seinen Gedanken weit weg.
»Bo. Was ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Es wundert mich, dass Ashen sich so verhält. Aber es ist jetzt
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