Die Beschenkte
du mich nicht nur geweckt, um Gesellschaft zu haben.«
»Du brauchst keinen Schlaf, und wenn ich auch wach bin, können wir genauso gut weitergehen.«
Sofort war sie auf, hatte ihre Decke zusammengerollt und sich sekundenschnell Köcher, Bogen und Taschen auf den Rücken geladen. Ein Pfad führte zwischen den Bäumen bergab. Der Wald war schwarz. Bo nahm ihren Arm und führte sie, so gut er konnte, stolperte über Steine und legte die Hand an Stämme, die sie nicht sehen konnte, um sich abzustützen.
Als schließlich kaltes, graues Licht ihrem Weg Schatten und Form gab, gingen sie schneller, bis sie rannten. Es begann zu schneien und der Weg, jetzt breiter und ebener, schimmerteblassblau. Der Gasthof, in dem sie Pferde kaufen konnten, lag jenseits des Waldes, zu Fuß noch Stunden entfernt. Während sie weitereilten, freute sich Katsa darauf, zu Pferd Füße und Lungen ausruhen zu können. Sie teilte den Gedanken Bo mit.
»Das ist also nötig«, sagte er, »um dich müde zu machen. Durchs Dunkel laufen, nach tagelangem Klettern in den Bergen ohne Schlaf und ohne Nahrung.« Er lächelte nicht und scherzte nicht. »Das freut mich. Wohin wir auch laufen, deine Energie und deine Ausdauer werden wir wahrscheinlich brauchen.«
Da fiel ihr etwas ein. Sie griff in eine Tasche auf ihrem Rücken. »Iss. Wir müssen beide essen, sonst taugen wir nichts.«
Es war mitten am Vormittag und der Schnee rieselte immer noch herunter, als sie sich der Stelle näherten, wo der Wald abrupt endete und die Felder begannen. Plötzlich drehte sich Bo zu Katsa um, jeder Zug seines Gesichts signalisierte Alarm. Überstürzt rannte er den Pfad zwischen den Bäumen hinunter, dem Waldrand zu. Und dann hörte Katsa es – schreiende Männerstimmen und das Donnern sich nähernder Pferdehufe. Sie lief hinter Bo her und brach mehrere Schritte hinter ihm aus den Bäumen. Eine Frau stolperte über die Felder auf sie zu, die Arme ausgebreitet, das Gesicht eine Maske des Entsetzens. Sie hatte dunkles Haar und goldene Reife in den Ohren, trug ein schwarzes Kleid und Gold an den Fingern, die sie Bo entgegenstreckte. Und hinter ihr her stürmte eine Armee auf galoppierenden Pferden, angeführt von einem Mann in wehenden Gewändern, mit einer Augenklappe und gezücktem Bogen, der einen Pfeil inden Rücken der Frau schnellen ließ. Die Frau zuckte zusammen, stolperte und fiel mit dem Gesicht in den Schnee.
Bo blieb jäh stehen. Er lief zu Katsa zurück und schrie: »Erschieß ihn! Erschieß ihn!«, doch sie hatte schon den Bogen vom Rücken genommen und griff nach einem Pfeil. Sie spannte die Sehne und zielte. Und dann standen die Pferde still. Der Mann mit der Augenklappe schrie auf und Katsa erstarrte.
»Oh, was für ein schrecklicher Unfall!«, rief er.
Seine Stimme klang erstickt, wie ein Schluchzen, so voller verzweifeltem Schmerz, dass Katsa nach Luft rang. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Was für ein schrecklicher, schrecklicher Unfall«, schrie der Mann. »Meine Frau! Meine geliebte Frau!«
Katsa schaute auf die zusammengebrochene Frau am Boden, das schwarze Kleid, die ausgebreiteten Arme, den weißen Schnee mit dem roten Fleck. Das Schluchzen des Mannes drang über die Felder hinweg zu ihr. Es war ein Unfall. Ein schrecklicher, tragischer Unfall. Katsa senkte den Bogen.
»Nein! Erschieß ihn!«
Katsa starrte Bo mit offenem Mund an, erschrocken von seinen Worten, von der Wildheit in seinen Augen. »Aber es war ein Unfall!«
»Du hast versprochen zu tun, was ich sage.«
»Ja, aber ich werde doch nicht einen trauernden Mann erschießen, dessen Frau durch einen solchen Unfall …«
Jetzt klang seine Stimme so wütend wie nie zuvor. »Gib mir den Bogen«, zischte er, ganz fremd und rau, so gar nicht wie er selbst.
»Nein.«
»Gib ihn mir.«
»Nein! Du bist nicht bei Sinnen.«
Da raufte er sich die Haare und schaute sich verzweifelt um zu dem Mann, der sie beobachtete, sein einziges Auge auf sie gerichtet, der Blick kalt, abschätzend. Bo und der Mann starrten einander einen Moment an. Kurz glaubte Katsa sich an etwas zu erinnern, doch dann war es vorbei. Bo wandte sich ihr wieder zu, jetzt war er ruhig. Verzweifelt, eindringlich ruhig.
»Würdest du stattdessen etwas anderes machen?«, fragte er. »Etwas viel Geringeres, das keinem wehtut?«
»Ja, wenn es keinem wehtut.«
»Würdest du mit mir zurück in den Wald laufen? Und dir die Ohren zuhalten, wenn er anfängt zu reden?«
Was für eine seltsame Bitte – aber wieder
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