Die Beschenkte
verspürte sie dieses seltsame kurze Erinnern, und sie stimmte zu, ohne zu wissen, warum. »Ja.«
»Schnell, Katsa.«
Sie drehten sich um und rannten, und als sie Stimmen hörte, legte sie die Hände auf die Ohren. Doch sie konnte ab und zu immer noch gebellte Worte hören, und was sie hörte, verwirrte sie. Und dann Bos Stimme, die ihr zurief weiterzulaufen, die deshalb so schrie, dachte sie benommen, damit sie die anderen Stimmen übertönte. Schwach hörte sie das Klappern von Hufen hinter sich. Aus dem Klappern wurde ein Donnern. Und dann sah sie die Pfeile, die auf die Bäume um sie herum prasselten.
Die Pfeile machten sie zornig. Wir könnten diese Männer töten, alle miteinander, ließ sie Bo wissen. Wir sollten kämpfen. Aber er schrie weiter, sie solle laufen, und seine Hand umklammerte ihre Schulter und schob sie voran, und sie hatte wieder dieses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, dass nichts von alledem normal war und dass sie in diesem Irrsinn Bo vertrauen sollte.
Sie liefen um Bäume herum und kletterten Hänge hinauf, rannten immer in die Richtung, die Bo angab. Die Pfeile blieben aus, als sie tiefer in den Wald drangen, denn im Wald kamen die Pferde langsamer voran und die Männer verloren die Richtung. Noch immer rannten sie weiter. Sie kamen in einen Teil des Waldes, in dem die Bäume so dicht standen, dass Schnee auf den Ästen und Zweigen lag, aber den Boden nicht erreicht hatte. Unsere Fußspuren, dachte Katsa. Bo hat uns hierhergeführt, damit sie unseren Spuren nicht folgen können. Sie klammerte sich an diesen Satz, weil er in all dieser Sinnlosigkeit das Einzige war, was sie verstand.
Schließlich zog Bo ihr die Hände von den Ohren. Sie liefen weiter, bis sie zu einem großen, mächtigen Baum mit braunen Nadeln kamen. Der Boden war mit dürren toten Ästen bedeckt, die heruntergefallen waren. »Da oben ist eine Höhle«, sagte Bo, »im Stamm ist eine Öffnung. Kannst du hinaufsteigen? Kannst du mir folgen, wenn ich vorausklettere?«
»Natürlich. Hier«, und sie hielt ihm die gefalteten Hände hin. Er stellte den Fuß auf ihre Handflächen und sie hob ihn so hoch sie konnte in den Baum. An den rauen Stellen im Stamm fand sie Halt für Hände und Füße, als sie ihm folgte. »Nimm nicht diesen Ast«, rief er ihr zu. »Und den hier würde schon ein Windstoß brechen.« Sie benutzte dieselben Äste wie er und kam ihm nach. Er verschwand, und im nächsten Moment streckte er die Arme aus einem großen Loch überihr. Er zog sie hinein in den Baum, in den ausgehöhlten Raum, den er vom Boden aus gespürt hatte. Schwer atmend saßen sie im Dunkeln, die Beine in ihrer Baumhöhle verschränkt.
»Hier sind wir vorübergehend sicher«, sagte Bo, »solange sie nicht mit Hunden hinter uns her sind.«
Aber warum versteckten sie sich? Jetzt, wo sie ruhig dasaßen, durchschoss es Katsas Gedanken wie die Pfeile der Reiter hinter ihnen, wie sonderbar das alles war. Warum versteckten sie sich, warum kämpften sie nicht? Warum fürchteten sie sich? Auch die Frau hatte sich gefürchtet. Die Frau, die wie eine Lienid ausgesehen hatte. Ashen. Die Frau von Leck war aus Lienid, und sie hieß Ashen – ja, das ergab einen Sinn, denn dieser kummervolle Mann hatte sie seine Frau genannt. Der Mann mit der Augenklappe und dem Bogen in den Händen war Leck.
Aber war es nicht Lecks Pfeil, der Ashen getroffen hatte? Katsa konnte sich nicht recht erinnern, und wenn sie versuchte, den Moment in Gedanken wieder vor sich zu sehen, verhüllten Nebel und Schneegestöber ihr die Sicht.
Vielleicht konnte sich Bo erinnern. Aber Bo war auch so sonderbar gewesen, als er sie aufforderte, Leck zu erschießen, der doch um seine tote Frau trauerte. Und als er ihr sagte, sie solle sich die Ohren zuhalten. Warum die Ohren zuhalten?
Diese vage Erinnerung, die sie nicht greifen konnte, flackerte wieder in ihren Gedanken auf. Sie wollte sie fassen, doch sie verschwand. Und dann wurde sie wütend über ihre Verständnislosigkeit, ihre Dummheit. Sie konnte all das nicht begreifen, weil sie nicht intelligent genug war.
Sie schaute zu Bo hinüber, der sich an die Baumwandlehnte und geradeaus ins Nichts starrte. Sein Anblick beunruhigte sie noch mehr, denn sein Gesicht wirkte abgemagert, den Mund hatte er zusammengepresst. Er war müde, erschöpft, wahrscheinlich hungrig. Er hatte etwas über Hunde gesagt, und sie kannte seine Augen gut genug, um die besorgten Schatten darin zu erkennen.
Bo! Bitte sag mir, was hier los
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