Die Beschenkte
ist.
»Katsa!« Er seufzte ihren Namen, rieb sich die Stirn und schaute ihr dann ins Gesicht. »Erinnerst du dich an unser Gespräch über König Leck, Katsa? Was wir über ihn gesagt haben, bevor wir ihn heute sahen?«
Sie starrte ihn an und erinnerte sich, dass sie etwas gesagt hatten, konnte sich aber nicht entsinnen, was es gewesen war.
»Über seine Augen, Katsa. Dass er etwas versteckt.«
»Er ist …« Plötzlich fiel es ihr ein. »Er ist ein Beschenkter.«
»Ja. Und erinnerst du dich daran, was seine Gabe ist?«
Und dann fiel es ihr wieder ein, Stück um Stück, tauchte auf aus einem Winkel ihrer Gedanken, den sie zuvor nicht hatte erreichen können. Sie sah es klar vor sich: Ashen, voller Entsetzen, floh vor ihrem Mann und seinen Soldaten. Leck schoss Ashen in den Rücken. Leck schrie in angeblicher Trauer auf, seine Worte vernebelten Katsas Gedanken, veränderten den Mord, den sie gesehen hatte, in einen tragischen Unfall, an den sie sich nicht erinnerte. Und dann schrie ihr Bo zu, sie solle Leck erschießen, und Katsa weigerte sich.
Sie konnte ihm nicht ins Gesicht sehen vor Scham.
»Es ist nicht deine Schuld«, sagte er.
»Ich habe dir geschworen zu tun, was du sagst. Ich habe es geschworen, Bo!«
»Katsa! Niemand hätte dieses Versprechen halten können. Wenn ich gewusst hätte, wie mächtig Leck ist, wenn ich nur die leiseste Ahnung gehabt hätte – dann hätte ich dich nie hierhergebracht.«
»Du hast mich nicht hierhergebracht. Wir sind zusammen gekommen.«
»Und jetzt sind wir beide in großer Gefahr.« Er richtete sich auf. »Warte!«, flüsterte er und schien zu horchen, doch Katsa hörte nichts. »Sie durchsuchen den Wald«, sagte er nach einer Minute. »Der eine ist umgekehrt. Ich glaube nicht, dass sie Hunde haben.«
»Aber warum verstecken wir uns vor ihnen?«
»Katsa …«
»Was meinst du damit, wir sind in großer Gefahr? Warum kämpfen wir nicht gegen diese Schlächter, warum …« Sie schlug die Hände vors Gesicht. »Ich bin so verwirrt. Ich bin einfach zu dumm.«
»Du bist nicht dumm. Das ist Lecks Gabe, die dir deine Gedanken raubt, und es ist meine Gabe, die so viel mehr sieht, als ein Mensch sehen sollte. Du bist verwirrt, weil Leck dich mit seinen Worten absichtlich verwirrt hat und weil ich dir noch nicht gesagt habe, was ich weiß.«
»Dann sag es mir. Sag mir, was du weißt.«
»Ashen ist tot, das muss ich dir nicht sagen. Sie ist tot, weil sie versucht hat, Leck mit Bitterblue zu entkommen. Wir sind Zeugen ihrer Strafe dafür, dass sie ihr Kind beschützt hat.« Katsa hörte seine Bitterkeit und erinnerte sich, dass Ashen keine Fremde für ihn war. Er hatte gesehen, wie ein Mitglied seiner Familie ermordet worden war. »Ich glaube, du hattest Recht mit dem, was du über Bitterblue gesagthast«, sagte er. »Ich bin fast sicher, weil ich weiß, was Ashen wollte, als sie auf mich zulief.«
»Was wollte sie?«
»Sie wollte, dass ich Bitterblue finde und sie beschütze. Ich – ich weiß nicht genau, was Leck mit ihr tun wollte. Aber ich glaube, dass Bitterblue sich im Wald versteckt wie wir.«
»Wir müssen sie vor Leck finden.«
»Ja, aber du musst noch mehr wissen, Katsa. Wir sind in großer Gefahr, du und ich. Leck hat uns gesehen, er hat uns erkannt. Leck hat uns gesehen …«
Er unterbrach sich, aber das machte nichts. Katsa verstand plötzlich, was Leck gesehen hatte. Er hatte sie weglaufen sehen, dabei sollten sie doch nicht die geringste Ahnung davon haben, in welcher Gefahr sie waren. Er hatte gesehen, wie sie sich die Ohren zuhielt, dabei sollten sie doch gar nichts wissen über die Macht seiner Worte.
»Er weiß nicht – er weiß nicht, wie viel von der Wahrheit ich kenne«, sagte Bo. »Aber er weiß, dass seine Gabe bei mir nicht wirkt. Ich bin eine Bedrohung für ihn und er will mich tot sehen. Und dich will er lebend.«
Katsa schaute ihm ins Gesicht. »Aber sie haben auf uns geschossen …«
»Ich habe das Kommando gehört, Katsa. Die Pfeile waren für mich bestimmt.«
»Wir hätten kämpfen sollen«, sagte Katsa. »Wir hätten es mit diesen Soldaten aufnehmen können. Wir müssen ihn finden und töten.«
»Nein, Katsa. Du weißt, dass du nicht in seiner Gegenwart sein kannst.«
»Ich kann mir irgendwie die Ohren zuhalten.«
»Du kannst nicht jedes Geräusch ausschalten, und er wird einfach lauter reden. Er wird schreien und du wirst ihn hören – dein Gehör ist zu gut – und seine Worte sind nicht weniger gefährlich, wenn
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