Die Beschenkte
erzählt?«
»Meine Mutter hat es mir verboten, strikt verboten, es ihnen zu erzählen. Ich habe darunter gelitten, ihnen die Gabe zu verschweigen – besonders Silvern und Skye, der mir imAlter am nächsten ist. Aber jetzt kenne ich meine Brüder als erwachsene Männer, und ich sehe ein, dass meine Mutter Recht hatte.«
»Warum? Sind sie nicht vertrauenswürdig?«
»In fast allem sind sie es. Aber sie sind voller Ehrgeiz, Katsa, jeder einzelne, ständig spielen sie einander aus, um meinen Vater für sich zu gewinnen. Ich scheine keine Bedrohung für sie zu sein – weil ich der jüngste bin und keinen Ehrgeiz habe. Und sie respektieren mich, denn sie wissen, dass sie mich nur zu sechst in einem Kampf besiegen könnten. Aber wenn sie die Wahrheit über meine Gabe wüssten, würden sie versuchen, mich zu benutzen. Dagegen würden sie nicht ankommen.«
»Aber du würdest es nicht zulassen.«
»Nein, doch dann würden sie mich hassen, und ich weiß nicht, ob nicht einer von ihnen der Versuchung nachgeben würde, es seiner Frau zu erzählen oder seinen Ratgebern. Mein Vater würde es erfahren und alles würde in sich zusammenfallen.«
Sie hielten an einem Bächlein. Katsa trank und wusch sich das Gesicht. »Deine Mutter war sehr weitsichtig.«
»Am meisten fürchtete sie, dass mein Vater es erfahren könnte.« Er füllte seine Flasche im Bach. »Als Vater ist er nicht ohne Güte. Aber es ist schwer, König zu sein. Männer versuchen mit allen Tricks, einem König so viel Macht zu nehmen, wie sie können. Ich wäre ihm zu nützlich gewesen. Er hätte nicht widerstehen können, mich zu benutzen – er hätte es einfach nicht gekonnt. Und das war es, was meine Mutter am meisten fürchtete.«
»Versuchte er nie, dich als Kämpfer zu benutzen?«
»Sicher, und ich habe ihm geholfen. Nicht wie du Randa geholfen hast – mein Vater ist kein brutaler Mensch wie Randa. Doch meine Mutter fürchtete, dass er auch meinen Verstand benutzt hätte. Sie wollte, dass mein Verstand mir allein gehört, nicht ihm.«
Katsa kam es nicht richtig vor, dass eine Mutter ihr Kind vor seinem Vater beschützen musste. Aber sie wusste nicht viel über Eltern. Sie hatte weder Mutter noch Vater gehabt, die sie vor Randa schützen konnten. Vielleicht waren nicht Väter, sondern Könige die eigentliche Gefahr.
»Und dein Großvater war auch der Meinung, dass niemand die Wahrheit über deine Gabe wissen sollte?«
»Mein Großvater war auch der Meinung.«
»Wäre dein Vater sehr wütend, wenn er jetzt die Wahrheit erfahren würde?«
»Er wäre außer sich vor Wut auf mich, meine Mutter und meinen Großvater. Sie wären alle wütend. Und mit Recht, wir haben eine große Täuschung zu verantworten, Katsa.«
»Du warst dazu gezwungen.«
»Trotzdem. Es wäre nicht leicht, das zu verzeihen.«
Katsa kletterte auf einen Steinhaufen und schaute sich um. Sie schienen den Gipfeln nicht näher gekommen zu sein, die sich vor ihnen erhoben. Nur wenn sie zurückschaute zu dem Wald weit drunten, wusste sie, dass sie höher gestiegen waren. Das und die gesunkene Temperatur verrieten es. Sie schob ihre Taschen zurecht und ging zurück zum Pfad.
Und dann stieß der Gedanke an Königinnen, die ihre Kinder vor Königen beschützen, tief in ihrem Kopf etwas an.
Bo! Leck hat eine Tochter.
»Ja, Bitterblue. Sie ist zehn.«
Bitterblue könnte eine Rolle in dieser seltsamen Sache spielen. Wenn Leck versucht, ihr etwas zu tun, würde das erklären, dass Königin Ashen mit ihr verschwunden ist.
Bo blieb abrupt stehen und drehte sich erschrocken zu ihr um. »Wenn er Tiere zum Vergnügen aufschlitzt, möchte ich gar nicht daran denken, was er vielleicht gern mit der eigenen Tochter anstellen würde.«
Die Frage hing unheimlich, schrecklich zwischen ihnen in der Luft. Katsa dachte plötzlich an die beiden toten kleinen Mädchen.
»Hoffentlich irrst du dich.« Bo drückte eine Hand auf seinen Magen, als wäre ihm übel.
»Lass uns schneller gehen«, sagte Katsa, »nur für den Fall, dass ich Recht habe.«
Sie rannten fast den Pfad hinauf, durch die Berge, die sie von Monsea trennten und von der Wahrheit.
Am nächsten Morgen erwachten sie auf dem Boden einer staubigen Hütte bei erloschenem Feuer und winterlicher Kälte, die durch den Spalt unter der Tür drang. Die gefrorenen Sterne schienen zu schmelzen, als Katsa und Bo weiterkletterten, und Licht sickerte über den Horizont. Ihr Pfad wurde steiler und steiniger. Das schnelle Klettern vertrieb die Kälte
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