Die besten Stories
unmöglich. Oder stimmte es doch? Der Junge war dürr, zurückgeblieben. Und vermutlich steril. Strahleneinwirkung, die ganzen Jahre hindurch. Kein Wunder, daß er so klein war. Seine Arme und Beine wirkten wie Pfeifenreiniger, knotig und dünn. Hendricks berührte den Arm des Jungen. Die Haut war trocken und rauh; Strahlenhaut. Er beugte sich nach unten und blickte dem Jungen ins Gesicht. Es war völlig ausdruckslos. Und besaß große Augen, groß und dunkel.
»Bist du blind?« wollte Hendricks wissen.
»Nein. Ich kann sehen.«
»Wie bist du den Klauen entkommen?«
»Den Klauen?«
»Den runden Dingern. Die laufen und graben.«
»Ich verstehe nicht.«
Vielleicht gab es keine Klauen in dieser Gegend. Eine Anzahl Gebiete waren frei von ihnen. Sie sammelten sich meistens in der Nahe der Bunker, dort, wo sich Menschen befanden. Die Klauen waren in der Lage, Wärme zu registrieren, die Wärme lebender Wesen.
»Du bist glücklich.« Hendricks richtete sich auf. »Nicht wahr? Wohin gehst du jetzt? Zurück – dorthin zurück?«
»Kann ich mit Ihnen kommen?«
»Mit mir?« Hendricks verschränkte die Arme. »Ich habe einen weiten Weg vor mir. Viele Meilen. Ich muß mich beeilen.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich muß vor Anbruch der Nacht dort eintreffen.«
»Ich möchte mitkommen.«
Hendricks stöberte in seinem Rucksack. »Es ist es nicht wert. Hier.« Er holte die Konserven hervor, die er mitgenommen hatte. »Du nimmst das hier und gehst zurück. Okay?«
Der Junge sagte nichts.
»Ich werde wiederkommen. In etwa einem Tag. Wenn du hier bist, wenn ich zurückkomme, nehme ich dich mit. In Ordnung?«
»Ich möchte jetzt mit Ihnen gehen.«
»Es ist ein weiter Weg.«
»Ich kann laufen.«
Hendricks war unbehaglich zumute. Zwei Menschen gaben ein zu gutes Ziel ab. Und der Junge würde ihn aufhalten. Aber vielleicht würde er nicht hierher zurückkehren können. Und wenn der Junge wirklich ganz allein war…
»Okay. Komm mit.«
Der Junge glitt an seine Seite. Hendricks setzte sich in Bewegung. Der Junge ging still neben ihm her und umklammerte seinen Teddybär.
»Wie heißt du?« fragte Hendricks nach einer Weile.
»David Edward Derring.«
»David? Was – was geschah mit deiner Mutter und deinem Vater?«
»Sie starben.«
»Wodurch?«
»Durch die Explosion.«
»Wie lange ist das her?«
»Sechs Jahre.«
Hendricks wurde langsamer. »Seit sechs Jahren bist du allein?«
»Nein. Eine Zeitlang waren andere Menschen bei mir. Sie gingen fort.«
»Und seitdem bist du allein?«
»Ja.«
Hendricks blickte auf ihn hinunter. Der Junge war seltsam, sprach sehr wenig. War verschlossen. Aber so waren sie, die Kinder, die überlebt hatten. Still. Stoisch. Ein merkwürdiger Fatalismus hatte sie befallen. Nichts überraschte sie. Sie akzeptierten alles, was ihnen zustieß. Es gab keinen normalen, keinen natürlichen Lauf der Dinge mehr, ob nun seelisch oder körperlich, dem sie folgen konnten. Sitten, Gewohnheiten, all die bestimmenden Kräfte, durch die ein Kind lernte, waren verschwunden; nur rohe Erfahrungen waren geblieben.
»Gehe ich zu schnell?« fragte Hendricks.
»Nein.«
»Wie kam es, daß du mich gesehen hast?«
»Ich habe gewartet.«
»Gewartet?« Hendricks war verwirrt. »Worauf hast du gewartet?«
»Ich wollte Dinge fangen.«
»Was für Dinge?«
»Dinge, die man essen kann.«
»Oh.« Hendricks preßte grimmig die Lippen aufeinander. Ein dreizehnjähriger Junge, der von Ratten und Mäusen und halbverdorbenen Konserven lebte. In einem Loch unter den Ruinen der Stadt. Umgeben von radioaktiven Pfützen und Klauen, und über ihm am Himmel huschten russische Fallminen entlang.
»Wohin gehen wir?« fragte David.
»Zu den russischen Linien.«
»Russen?«
»Der Feind. Wir haben mit ihnen diesen Krieg geführt.«
Der Junge nickte. Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos.
»Ich bin Amerikaner«, erklärte Hendricks.
Er erhielt keine Antwort. Sie marschierten weiter, Hendricks voraus, David hinter ihm, der seinen schmutzigen Bären an die Brust drückte.
Gegen vier Uhr nachmittags legten sie eine Pause ein, um etwas zu essen. Hendricks machte in einer Vertiefung zwischen einigen Betonplatten ein Feuer. Er zupfte das Unkraut heraus und häufte Holzstückchen auf. Die russischen Linien waren nicht mehr weit von ihnen entfernt. Sie befanden sich in einem Gebiet, das einst ein langgestrecktes Tal gewesen war, Hektar voller Obstbaume und Weinstöcke. Nichts davon war übriggeblieben, nur die wenigen
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