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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Am Ende des Waggons, als ich auf den nächsten hinüber und dessen Brüstung ergreifen mußte, blieb ich stehen, mein Muth war zu Ende. Ich fand dazu nicht mehr die Kraft. »So beeile Dich doch!« Er stand dicht hinter mir, er drängte mich, ich schloß die Augen und wie ich weiter gekommen, weiß ich nicht, vermuthlich aus reinem Instinct, wie ein Thier, das seine Klauen einkrallt, um nicht zu stürzen. Wie kam es, daß man uns nicht gesehen hat? Drei Waggons mußten wir passiren, von denen einer zweiter Klasse überfüllt war. Ich erinnere mich noch der Reihe, von der Lampe hell beschienener Köpfe; ich glaube, ich müßte sie wiedererkennen, wenn ich ihnen eines Tages wieder begegnen würde: den eines dicken Mannes mit rothem Backenbart, die zweier junger Mädchen, die sich lachend vorbeugten. »Willst Du gehen, willst Du gehen!« Weiter weiß ich nichts, die Lichter von Barentin näherten sich, die Locomotive pfiff, meine letzte Empfindung war, an den Haaren emporgehoben und durch die Leere geschleppt, geschleift worden zu sein. Mein Mann hatte mich umfassen, über meine Schulter fort die Koupeethür öffnen und mich direct in das Innere werfen müssen. Bebend und halb ohnmächtig erwachte ich in einer Ecke wieder, gerade als wir anhielten. Ohne mich zu rühren, hörte ich ihn mit dem Bahnhofsvorsteher in Barentineinige Worte wechseln. Dann fuhr der Zug weiter, er sank ebenfalls, völlig fertig, auf einen Sitz. Bis Havre haben wir nicht mehr den Mund aufgethan … O, ich hasse ihn, ich hasse ihn für diese Abscheulichkeiten, unter denen ich leiden mußte. Und Dich, Dich, mein Schatz liebe ich für alles Glück, das Du mir geschenkt hast.«
    Séverine war erlöst von den Gräueln ihrer Erinnerungen und nun das brennende Verlangen nach dieser Beichte gestillt war, klang dieser Aufschrei wie ein Triumph ihrer Freude, Jacques, der sich ganz wirr im Kopfe fühlte und wie sie glühte, hielt sie noch einmal zurück.
    »Nein, nein warte … Du lagst also auf seinen Beinen und hast ihn sterben gefühlt?«
    In ihm war das Unbekannte wieder wach geworden, eine wild sich bäumende Woge drängte aus den Eingeweiden und erfüllte seinen Kopf mit einer rothen Vision. Die Neugier hatte ihn gepackt.
    »Du hast das Messer in den Körper dringen gefühlt?«
    »Ja mit einem dumpfen Schlag.«
    »Ah, mit einem dumpfen Schlag … Es klang nicht wie ein Zerreißen, Du bist dessen gewiß?«
    »Nein, es glich mehr einer Erschütterung,«
    »Und dann zeigte sich ein Schauder?«
    »Drei Schauder durch seinen ganzen Körper, ich habe sie in seinen Beinen fühlen können.«
    »Diese Schauder ließen ihn in die Höhe fahren, nicht wahr?«
    »Ja, der erste war sehr stark, die beiden anderen schwächer.«
    »Und was für eine Empfindung hattest Du, als Du ihn an dem Messerstich sterben fühltest?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du weißt es nicht, warum lügst Du? … Sage mir, sage mir ganz offen, was Du empfandest … Qual?«
    »Nein, keine Qual.«
    »Vergnügen?«
    »O, auch kein Vergnügen!«
    »Was also, meine Liebe? Ich bitte Dich, sage mir Alles … Wenn Du wüßtest … Sage mir, was man fühlt …«
    »Mein Gott, kann man denn das so ausdrücken? … Es ist so schauderhaft und man fühlt sich so weit, weitfortgetragen! Ich habe in dieser einen Minute mehr gelebt, als in meinem ganzen voraufgegangenen Leben.«
    Mit aufeinander gepreßten Zähnen riß sie Jacques jetzt an sich und auch Séverine gab sich ihm willenlos hin. In einander wie unauflöslich verschlungen, suchten sie im Reiche des Todes die Liebe mit derselben schmerzlichen Sinneslust wie die Thiere, die sich während der Brunst die Eingeweide zerreißen. Man vernahm nichts weiter als ihren keuchenden Athem. Der blutige Wiederschein an der Decke war verschwunden. Der Ofen war ausgebrannt, in dem Zimmer begann in Folge der von draußen hereindringenden großen Kälte ebenfalls eine eisige Luft zu wehen. Kein Laut stieg aus dem vom Schnee wie auswattirten Paris herauf. Eine kurze Zeit hörte man das Schnarchen der Zeitungsverkäuferin nebenan, dann aber war wieder alles verschlungen von dem schwarzen Schlünde des schlafenden Hauses.
    Jacques hatte Séverine in seinen Armen behalten und fühlte jetzt, wie sie einer unwiderstehlichen Müdigkeit nachgab. Die Reise, der ausgedehnte Aufenthalt bei den Misard, das Fieber dieser Nacht, dem war sie nicht gewachsen. Halb im Schlaf schon wünschte sie ihm wie ein artiges Kind eine gute Nacht und schon schlief sie auch, ruhig athmend ein.

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