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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Zugführer, er entschloß sich, drängte mich in das Koupee, stieg hinter mir ein, warf die Koupeethür zu und zog das Fenster hoch. Wie es kam, daß man uns nicht gesehen hat, begreife ich heute noch nicht. Es liefen viele Leute umher, die Beamten verloren den Kopf, kurz es hat sich kein Zeuge gefunden, der uns wirklich gesehen hat. Langsam rollte der Zug aus dem Bahnhof.«
    Sie schwieg einige Sekunden bei der Erinnerung an diese Scene. Ohne eine Empfindung dafür zu haben, denn ihre Glieder waren wie abgestorben, spürte sie ein Zucken in ihrem linken Schenkel und rieb diesen mechanisch in rhythmischer Bewegung an dem Knie des jungen Mannes.
    »O, welches Gefühl, als ich im ersten Augenblick in diesem Koupee den Boden unter mir schwinden glaubte! Ich war wie betäubt und mein erster Gedanke galt unserm Gepäck: wie konnten wir es wieder erhalten? Würde man es uns nicht stehlen, nachdem wir es liegen gelassen? Der Mord erschien mir als etwas so Dummes, Unmögliches, als das geträumte Alpdrücken eines Kindes, an dessen Ausführung zu denken heller Wahnsinn gewesen wäre. Schon am nächstenTage mußten mir, so schien es mir, verhaftet und überführt werden können. Auf diese Weise suchte ich mich zu beruhigen; ich sagte mir, mein Gatte würde vor diesem letzten Schritt zurückscheuen, ein Mord würde nicht, könnte nie geschehen. Doch nein, als ich ihn mit dem Präsidenten sprechen hörte, fühlte ich, daß sein wilder Entschluß unbeugsam feststand. Trotzdem war er sehr gefaßt und sprach sogar heiter, wie gewöhnlich. Nur aus seinem klaren, einen Augenblick scharf auf mich gerichteten Blick las ich die Hartnäckigkeit seines Willens. Er wollte ihn tödten, ein, zwei Kilometer weiter, kurz an der von ihm ausgedachten Stelle, die mir unbekannt war: das war eine Gewißheit, das sprach aus den ruhigen Blicken, die den Andern, der bald nicht mehr sein sollte, maßen. Ich sprach kein Wort; meine furchtbare innere Erregung suchte ich unter einem Lächeln zu verstecken, sobald mich Jemand ansah. Warum ich nicht daran gedacht habe, alles das zu verhüten? Erst später erstaunte ich, warum ich nicht gleich an die Thür geeilt bin oder das Lärmsignal gezogen habe. In jenem Augenblick war ich wie gelähmt, ich fühlte mich vollständig ohnmächtig. Mein Gatte schien zweifellos in seinem Recht. Da ich Dir Alles sage, Geliebter, muß ich Dir auch Folgendes erzählen: ich stand mit meinem ganzen Empfinden und gegen meinen Willen auf seiner Seite; Beide zwar hatten mich besessen, aber mein Mann war noch jung, während der Andere … o, diese entsetzlichen Zärtlichkeiten des Anderen! … Im Uebrigen weiß man, wie es zugeht? Man thut Dinge, die man nie für möglich gehalten haben würde. Mit Ueberlegung kann ich kein Huhn abschlachten! O, wie diese Empfindung einer Sturmnacht, dieses fürchterliche schwarze Etwas in mir aufheulte!«
    Jacques fand jetzt in diesem zarten, unbedeutenden Geschöpf in seinen Armen jene Undurchdringlichkeit, jene schwarze Tiefe heraus, von der Séverine sprach. Er hatte gut sie noch dichter als zuvor an sich heranzuziehen, er drang doch nicht in ihr Innerstes. Bei der unter ihrer Umarmung hervorgeflüsterten Erzählung von diesem Morde bemächtigte sich seiner eine fieberhafte Aufregung.
    »Und, sage mir, hast Du bei der Ermordung des Alten geholfen?«
    »Ich saß in einer Ecke,« fuhr Séverine fort, ohne aufseine Frage zu antworten. »Mein Gatte trennte mich von dem Präsidenten, der in der andern Ecke lehnte. Sie sprachen von den bevorstehenden Wahlen … Von Zeit zu Zeit sah ich meinen Gatten sich vorbeugen, wie von Ungeduld ergriffen warf er einen Blick nach draußen, um sich zu vergewissern, wo wir uns befänden … Ich folgte jedesmal seinem Blicke und orientirte mich auf diese Weise, wie weit wir schon gefahren waren. Die Nacht schimmerte bleich und wie rasend flogen die schwarzen Massen der Bäume an uns vorüber. Und immer wieder dieses Rasseln der Räder, das mir noch nie zuvor so aufgefallen war, dieser schreckliche Tumult stöhnender und wüthender Stimmen, wie jämmerliches Schreien zu Tode getroffener Thiere. Mit voller Schnelligkeit raste der Zug dahin … Plötzlich grelle Lichter, der Lärm des Zuges hallte zwischen den Gebäuden eines Bahnhofs wieder. Wir waren schon in Maromme, also zwei und eine halbe Meile von Rouen entfernt. Malaunay kam noch und dann Barentin. Wo sollte die That vor sich gehen? Wollte er bis auf die letzte Minute warten? Ich war mir der Zeit und der

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