Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
Vom Netzwerk:
die Geleise, ob ihr nicht irgend ein Umstand zu Hilfe kommen konnte. Auf dem Strang nach Dieppe, der ausgebessert wurde, stand ein Arbeitszug, den ihr Freund Ozil gerade dorthin gelenkt hatte. Wie eine plötzliche Erleuchtung kam ihr der Gedanke, den Weichensteller an der Umlegung der Weiche zu hindern, so daß der Eilzug nach Havre auf diesen Arbeitszug rennen mußte. Dieser Ozil war von dem Tage, an welchem er, blind vor Verlangen nach ihr, einen Hieb über den Schädel erhalten hatte, der diesen beinahe gespalten, ihr Freund geworden. Sie liebte es, ihm plötzliche Besuche zu machen, wie eine von ihrem Berge abgeirrte Ziege. Ozil war ein früherer Militär, ein magerer, enthaltsamer Mann, der Tag und Nacht mit offenem Augeauf seinen Dienst paßte und dem daher bisher noch kein Verschulden zur Last gelegt werden konnte. Nur dieses wie ein Mann so starke wilde Mädchen, das ihn zu Boden geschlagen hatte, entfachte sein Verlangen, sobald auch nur ihr kleiner Finger ihn berührte. Obwohl er gut vierzehn Jahre älter war als sie, wünschte er sie zu besitzen. Er hatte es sich geschworen und geduldete sich, indem er den Liebenswürdigen spielte, nachdem ihm sein rücksichtsloses Vorgehen nichts genützt hatte. Als sie an diesem Abend sich im Schatten seinem Häuschen genähert hatte und ihn beim Namen rief, dachte er an gar nichts weiter, als so schnell wie möglich zu ihr zu gelangen. Sie bethörte ihn richtig, ihr auf das Feld zu folgen, erzählte ihm endlose Geschichten, daß die Mutter krank wäre und sie nicht mehr in la Croix-de-Maufras bleiben würde, sollte diese sterben. Ihr Ohr vernahm aus der Ferne das Brausen des Eilzuges, der Malaunay soeben verlassen hatte und sich mit vollem Dampfe näherte. Und als sie ihn zur Stelle fühlte, sah sie sich um. Sie hatte aber die Rechnung ohne die neuen Bremsvorrichtungen gemacht. Als die Locomotive auf den Strang nach Dieppe fuhr, gab sie selbst das Haltesignal und der Locomotivführer hatte noch gerade Zeit, den Zug wenige Schritte vor dem Lastzug zum Halten zu bringen. Ozil rannte mit dem Aufschrei eines Mannes, der unter dem Zusammenbruche seines Hauses erwacht, zur Weiche zurück, während sie starr und unbeweglich, vom Dunkel geborgen, das zur Zurückführung auf das richtige Geleise nothwendige Manöver beobachtete. Zwei Tage später wurde der Weichensteller versetzt. Er kam ihr Lebewohl sagen; er ahnte nichts und bat sie, zu ihm zu kommen, sobald ihre Mutter gestorben sein würde. Ihr Plan war also fehlgeschlagen, sie mußte nach einer anderen Möglichkeit suchen.
    Der Nebel des Traumes, der bis jetzt Flore’s Blick getrübt hatte, verschwand in diesem Augenblick angesichts dieser Erinnerung. Von Neuem sah sie die von dem gelblichen Scheine der Kerze beleuchtete Todte. Ihre Mutter war nicht mehr, sollte sie jetzt wirklich Ozil heirathen, der sie haben wollte und den sie vielleicht glücklich machen würde? Ihr ganzes Wesen empörte sich. Nein, wenn sie wirklich so feige sein sollte, die Beiden am Leben zu lassen und selbst am Leben zu bleiben, dann wollte sie lieber über Land gehen und sich irgendwo alsDienstmädchen vermiethen, als einen Mann heirathen, den sie nicht liebte. Ein ungewohntes Geräusch ließ sie das Ohr spitzen: Misard riß mit einer Spitzhacke den festgestampften Fußboden der Küche auf. Er suchte immer eifriger nach dem verborgenen Schatz, es wäre ihm nicht darauf angekommen, das ganze Haus umzustülpen. Mit diesem Menschen noch länger zusammen zu leben, war ihr nicht gegeben. Was also sollte sie thun? ein Sturmwind erhob sich, die Mauern erzitterten und über das weiße Antlitz der Todten huschte ein Feuerstrahl, er tauchte die offenen Augen und den ironischen Zug um die Lippen in Blut. Es war der letzte Bummelzug aus Paris mit seiner schwerfälligen langsamen Locomotive.
    Flore hatte den Kopf gewandt und betrachtete die durch die Heiterkeit der Frühlingsnacht funkelnden Sterne.
    »Drei Uhr zehn Minuten. In fünf Stunden kommen sie.«
    Sie hätte zuviel unter der Fortsetzung dieses Spieles gelitten! Sie allwöchentlich zu sehen, sie der Liebe in die Arme zu fahren zu wissen, das ging über ihre Kräfte. Jetzt, nun sie die Gewißheit hatte, daß Jacques nimmermehr ihr allein gehören würde, jetzt hätte sie es gewünscht, daß er nicht mehr am Leben wäre und Keiner angehörte. Dieses düstere Zimmer, in welchem sie wachte, hüllte auch sie in Trauer, ihr Wunsch, daß Alles vernichtet werden möge, wuchs. Da Keiner mehr da war, der sie

Weitere Kostenlose Bücher