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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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werfen konnte; sie war so verzweifelt, daß sie sich sicher selbst auf die Geleise gelegt hätte, wenn ihre Knochen hart genug gewesen wären, um die Locomotive aus den Schienen zu heben. Ihre Blicke fielen auf den Karren, ein schweres, niedriges, mit zwei Steinblöcken beladenes Gefährt, das fünf kräftige Pferde kaum zu ziehen vermochten. Diese riesigen, hohen und breiten Blöcke boten sich ihr als mächtiges Hemmniß geradezu an. Sie fühlte plötzlich eine Lüsternheit, ein wildes Verlangen, sie zu nehmen und auf die Schienen zu legen. Die Barriere stand weit offen; heftig schnaubend warteten die schwitzenden Pferde.
    »Was hast Du heute?« fragte Cabuche. »Du siehst so merkwürdig aus.«
    »Meine Mutter ist gestern Abend gestorben.«
    Er stieß einen leisen Schrei freundschaftlichen Mitgefühles aus. Er legte seine Peitsche fort und drückte ihr beide Hände.
    »O arme Flore! Man mußte ja längst darauf gefaßt sein, aber doch thut es weh … Sie liegt ja wohl noch da, ich will sie sehen, wir hätten uns am Ende doch wieder ausgesöhnt, wenn dieses Unglück nicht gekommen wäre.«
    Er schritt langsam mit ihr dem Hause zu. Auf der Schwelle drehte er sich nach seinen Pferden um. Sie beruhigte ihn schnell:
    »Sie werden sich nicht rühren! Der Eilzug ist auch noch lange nicht da.«
    Sie log. Ihr geübtes Ohr hatte durch den warmen Schauer der Landschaft bereits vernommen, daß der Zug Barentin verließ. Nach fünf Minuten mußte er in einer Entfernung von hundert Metern aus der Schlucht herauskommen. Während der Kärrner in dem Zimmer der Todten sich vergaß und gerührt an Louisette dachte, blieb sie draußen vor dem Fenster und lauschte auf den regelmäßigen, von Sekunde zu Sekunde lauter werdenden Athem der Locomotive. Plötzlich fiel ihr Misard ein: er mußte ja sehen, was vorging und sie hindern; es war ihr, als bekäme sie einen Schlag vor die Brust, als sie ihn nicht auf seinem Posten bemerkte. Dagegen sah sie ihn auf der andern Seite des Hauses unterhalb des Brunnenrandes die Erde aufwühlen; sein Wahnsinn hatte ihn also wieder gepackt und er plötzlich geglaubt, daß dort der Schatz ruhen müßte: ganz seiner Leidenschaft hingegeben, grub er blind und taub darauf los. Jetzt schwand auch der letzte Rest einer Aufregung von ihr. Die Umstände selbst wollten es so. Eins der Pferde wieherte, während die Locomotive jenseits der Schlucht laut pustete, wie Jemand, der es ganz besonders eilig hat.
    »Ich werde die Pferde halten,« sagte Flore zu Cabuche, »sei unbesorgt.«
    Sie lief davon, faßte das vorderste Pferd am Gebiß und zog mit aller Kraft an. Die Pferde drängten zurück und einen Augenblick knirschte der Karren unter seiner schweren Last, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Aber sie zog, als wäre sie selbst als Reservepferd vorgespannt worden, der Karren schwankte und rollte auf die Schienen. Mitten aufden Geleisen war er gerade, als hundert Meter vor ihm der Eilzug aus der Schlucht kam. Um den Karren zum Stehen zu bringen, aus Furcht, daß er doch noch hinüber gelangte, hielt sie das Gespann mit einem so übermenschlichen Ruck an, daß ihre Glieder krachten. Sie hatte ihre Legende, man erzählte von ihr die außerordentlichsten Kraftstücke, sie hatte einen den Abhang herunterrollenden Wagen aufgehalten, einen Karren vor einem Zuge gerettet, jetzt brachte sie mit eiserner Faust die fünf bäumenden und wiehernden, die Gefahr ahnenden Pferde zum Stehen.
    Das waren zehn Sekunden endlosen Schreckens. Die beiden riesigen Blöcke schienen den Horizont zu versperren. Mit ihren blitzenden Kupfertheilen und leuchtenden Achsen glitt die Locomotive sanft und doch gewaltig in dem goldenen Strom des schönen Morgens dahin. Das unvermeidliche war da, keine Macht der Welt konnte die Zerschmetterung abwenden. Aber dieses Warten war so unerträglich.
    Misard war mit einem Sprunge wieder auf seinem Posten, mit den Händen und Fäusten fuchtelte er wild in der Luft herum, als hätte er den tollen Wunsch, der Maschine entgegenzulaufen und den Zug aufzuhalten. Auch Cabuche war beim Knarren der Räder und Wiehern der Pferde aus dem Hause getreten, er rannte davon und heulte ebenfalls, um die Pferde anzutreiben. Aber Flore war bereits zur Seite gesprungen und hatte ihn mit sich gezogen, wodurch er gerettet wurde. Er glaubte ja, sie hätte nicht die Kraft gehabt, die Pferde zu zügeln und sie hätten sie mit fortgerissen. Er klagte sich an und schluchzte verzweifelt, während sie hoch aufgerichtet, mit brennenden,

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