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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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phlegmatische Misard konnte eine gelinde Bewegung des Zornes nicht unterdrücken. Er verstand wohl, was sie sagte: Such! Such! Nun, die tausend Franken nahm sie gewiß nicht mit in die Ewigkeit, und nun sie todt war, würde er sie schon finden. Warum hatte sie sie ihm nicht freiwillig gegeben, dann wäre jeder Verdruß vermieden worden. Ueberallhin verfolgten ihn ihre Augen. Such! Such! Sein Blick umfaßte den ganzen Raum, in welchem er nie gesucht hatte, weil sie bei Lebzeiten fast stets dort sich aufhielt. Zuerst machte er sich an den Wäscheschrank: er nahm dieSchlüssel unter dem Kopfkissen vor, durchwühlte die mit Leinen bedeckten Bretter, leerte die zwei Schiebladen und stülpte sie sogar um, um zu sehen, ob kein geheimes Versteck darin wäre. Nein, nichts! Dann dachte er an den Nachttisch. Er hob die Marmorplatte ab und stellte den ganzen Tisch auf den Kopf, aber vergebens. Auch hinter dem Kaminspiegel, einem winzigen, von zwei Klammern gehaltenen Jahrmarktsspiegel, nahm er eine Musterung vor, er schob ein flaches Lineal zwischen Wand und Spiegel hindurch, holte aber nur ein schwärzliches Häuflein Staub hervor. Such! Such! Um den offenen Augen der Todten zu entgehen, legte er sich auf den Bauch und klopfte leise an verschiedene Stellen der Diele, um zu hören, ob ein hohler Ton ihm irgend ein Versteck verrathen würde. Mehrere Bretter waren lose, er riß sie ganz auf. Nichts, noch immer nichts! Als er sich wieder aufgerichtet hatte, nahmen ihn die Augen gleich wieder auf’s Korn, er wendete sich der Todten zu und versuchte ihr in die starren Augen zu blicken, deren verzerrte Lippen das fürchterliche Lächeln sehen ließen. Kein Zweifel, daß sie sich über ihn lustig machte. Such! Such! Er fieberte bereits, er trat noch näher an das Bett, denn ein Verdacht, ein gotteslästerlicher Gedanke keimte in ihm auf, der zunächst die schon bleiche Farbe seines Gesichts in ein noch fahleres Grau verwandelte. Warum hatte er es so sicher angenommen, daß sie die tausend Franken nicht mit nahm in die Ewigkeit? Vielleicht that sie es doch? Er wagte es, die Decke von ihr zu ziehen und sie zu entkleiden; er durchsuchte alles, selbst die geringste Falte an ihren Gliedern, hatte ihm doch die Todte geheißen zu suchen. Unter ihr, hinter ihrem Nacken, hinter ihrem Rücken suchte er. Er warf die Betten durcheinander und fuhr mit dem Arm bis zur Schulter in das Stroh hinein. Er fand nichts. Such! Such! Und ihr Kopf, der auf das unordentliche Kopfkissen zurückgesunken war, verfolgte ihn noch immer mit diesen spitzbübischen Blicken.
    Als Misard, zitternd vor Wuth, dabei war, das Bett wieder in Ordnung zu bringen, kam Flore von Doinville zurück.
    »Sonnabend um elf Uhr,« sagte sie.
    Sie meinte die Beerdigung. Ein einziger Blick belehrte sie, womit sich Misard während ihrer Abwesenheit beschäftigthatte. Sie konnte eine verächtliche Bewegung nicht unterdrücken.
    »Laßt doch das, Ihr werdet doch nichts finden.«
    Er bildete sich ein, daß auch sie ihn verspotte. Er schritt mit aufeinandergepreßten Zähnen auf sie zu und zischte:
    »Sie hat sie Dir gegeben, Du weißt, wo sie sind.«
    Der Gedanke, daß ihre Mutter überhaupt Jemandem, selbst ihr, der Tochter, die tausend Franken gegeben haben sollte, ließ sie mit den Schultern zucken.
    »Jawohl, mir gegeben! … Der Erde hat sie sie gegeben! … Dort irgendwo sind sie vergraben, Ihr könnt suchen.«
    Mit einer weit ausholenden Handbewegung bezeichnete sie das ganze Haus, den Garten mit seinem Brunnen, die Geleise, das weite, weite Land. Ja, dort in irgend einem Loche, das kein Mensch je entdecken konnte, ruhte das Geld. Während er außer sich, geängstigt, ohne Scheu vor der Gegenwart der Tochter fortfuhr, die Möbel fortzurücken und die Mauern zu beklopfen, trat das junge Mädchen an das Fenster und fuhr halblaut fort:
    »Eine milde, schöne Nacht … Ich bin schnell gegangen. Die Sterne strahlten, daß es hell war wie am Tage … Morgen giebt es einen prächtigen Sonnenaufgang!«
    Einen Augenblick noch blieb Flore am Fenster stehen; ihre Augen tauchten in die heitere, von der ersten Aprilwärme durchlaute Landschaft, die in ihr allerlei Träume hervorgezaubert und ihre Herzenswunde wieder aufgerissen hatte. Doch als Misard das Zimmer verlassen und sie ihn in den andern Räumen umherhantiren hörte, setzte sie sich an das Bett und richtete ihre Augen auf die todte Mutter. Das Licht auf der Tischkante zeigte noch immer eine hohe, unbewegliche Flamme. Ein Zug passirte und

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