Die Bestie im Menschen
jetzt auf den Bahndamm zu blicken, auf welchem die Züge sich unaufhörlich begegneten, ohne selbst den bleichen Kerzenschimmer neben diesem Körper zu bemerken.
Mit dem anbrechenden Tage trat Flore auch ihren Dienst wieder an. Sie verließ das Zimmer erst zum Pariser Bummelzug um sechs Uhr zwölf Minuten. Auch Misard löste um sechs Uhr seinen Kollegen vom Nachtdienst ab. Auf sein Alarmtuten hin pflanzte sie sich mit der Fahne in der Hand vor der Barriere auf. Eine Sekunde blickte sie dem Zuge nach.
»Noch zwei Stunden,« dachte sie ganz laut.
Ihre Mutter hatte keine Bedienung mehr nöthig. Sie fühlte jetzt eine förmliche Abneigung, das Zimmer wieder zu betreten. Das war vorüber, sie hatte sie noch einmal umarmt und konnte nun frei über ihr Leben und das der Anderen verfügen. Gewöhnlich verschwand sie in den Pausenwährend des Passirens der Züge, aber an diesem Morgen fesselte sie ein eigenes Interesse an die Bank neben der Barriere, eine einfache Holzplanke. Die Sonne stieg am Horizont herauf, ein warmer Strom Goldes durchfluthete die klare Luft. Sie rührte sich nicht, sie badete sich in dieser Milde inmitten der wüsten, von den Aprilsäften durchschauerten Landschaft. Einen Augenblick interessirte sie Misard, den man in seiner Holzbude jenseits der Geleise sichtlich aufgeregt, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit umherlaufen sah: er trat in’s Freie, er zog sich wieder zurück und hantirte nervös an seinen Apparaten herum; seine Blicke streiften beständig zu dem Wohnhause hinüber, als wäre sein Geist dort noch immer auf der Suche. Dann vergaß sie ganz, daß er dort war. Die Erwartung nahm sie völlig gefangen, stumm und starr heftete sie ihre Blicke auf das Ende der Geleise nach Barentin hin. Dort unten im fröhlichen Glanze der Sonne mußte sich eine Vision erhoben haben, von der ihr wilder Blick nicht zu weichen vermochte.
Minuten verflossen. Flore rührte sich nicht. Als endlich um sieben Uhr fünfundfünfzig Minuten Misard durch zwei Hornsignale den Bummelzug von Havre meldete, erhob sich Flore, sie schloß die Barriere und pflanzte sich mit der Fahne im Arm vor ihr auf. Schon war der Zug vorüber und verlor sich in der Ferne, nachdem er den Erdboden erschüttert hatte; man hörte ihn sich in den Tunnel bohren und der Lärm verstummte. Sie war nicht zur Bank zurückgekehrt, sondern stehen geblieben und zählte die Minuten. Wenn innerhalb zehn Minuten kein Güterzug gemeldet war, lief sie zur Kurve hinter dem Einschnitt, um eine Schiene auszuheben. Sie war sehr ruhig, nur auf ihrer Brust schien das enorme Gewicht ihres Unternehmens zu lasten. Der Gedanke, daß Jacques und Séverine sich näherten, daß sie hier vorüberkommen würden, um ihrer Liebe zu leben, falls sie nicht sie aufhielte, genügte, um sie in diesem letzten Augenblicke taub und blind zu machen und fest in ihrem Entschlusse, ohne daß der Zwiespalt in ihrem Innern noch einmal ausbrach: der Tatzenschlag der Wölfin, die den arglos Vorübergehenden niederstreckt, mußte geführt werden. In der Selbstsucht ihrer Rache sah sie immer wieder nur die beiden verstümmelten Körper, die andere unbekannte Menge, der Strom derMenschheit, der seit Jahren an ihr vorüberfluthete, beschäftigte ihre Gedanken garnicht. Die Sonne, diese Sonne, deren heiterer Schein sie irreleiten wollte, sollte sich hinter Blut und Leichen verstecken.
»Noch zwei, noch eine Minute, sie wollte gerade gehen, als ein Aechzen und Knarren auf der Landstraße von Becourt ihren Schritt hemmte. Wahrscheinlich ein Kärrner, dem man die Barriere öffnen, mit dem man sprechen, kurz dessenwegen man dableiben mußte: sie konnte dann nichts mehr unternehmen, der Anschlag war wieder einmal fehlgegangen. Mit einer wüthenden Geberde wollte sie davonlaufen und Wagen und Kutscher ihrem eigenen Schicksale überlassen. Doch eine Peitsche knallte durch die frische Morgenluft und eine fröhliche Stimme rief:
»Heda! Flore!«
Es war Cabuche. Wie am Boden gebannt blieb sie vor der Barriere stehen.
»Nun?« fragte er, »Du schläfst noch bei diesem schönen Wetter? Oeffne schnell, damit ich noch vor dem Eilzug hinüberkomme.«
In ihr fluthete Alles mild durcheinander. Der Schlag fiel nicht, die beiden Anderen konnten ruhig ihrem Glücke entgegenfahren, denn sie hatte keine Gelegenheit mehr. Jene zu zermalmen. Während sie langsam die alte, halb verfaulte Barriere öffnete, deren eingerostete Riegel kreischten, suchte sie wüthend nach irgend etwas, das sie auf die Schienen
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