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Die Bestie im Menschen

Die Bestie im Menschen

Titel: Die Bestie im Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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sein Dröhnen erschütterte das ganze Haus.
    Flore’s Absicht war es, die ganze Nacht bei der Todten zu wachen. Sie dachte nach. Zunächst lenkte der Anblick der Todten sie von ihrer fixen Idee ab, die sie unter den Sternen, in dem Frieden der Nacht auf dem ganzen Wege nach Doinville gequält hatte. Jetzt schläferte eine Ueberraschung ihr Leiden ein: warum war ihr Kummer durch den Tod ihrer Mutter nicht gewachsen, warum weinte sieauch jetzt nicht einmal? Trotzdem sie wie eine Wilde wortlos unentwegt auskniff und über die Felder streifte, sobald sie dienstfrei war, liebte sie doch ihre Mutter. Während der letzten Krisis, der Phasie erliegen sollte, war sie gewiß an zwanzig Mal an das Bett gekommen und hatte Jene gebeten, einen Arzt holen zu dürfen; denn sie zweifelte nicht an Misard’s Täterschaft und hoffte, daß die Furcht ihm dann Einhalt thun würde. Aber sie hatte von der Kranken immer nur ein wüthendes Nein als Antwort erhalten, als ob diese ihren Ehrgeiz darin setzte, den Kampf ohne Jemandes Hilfe durchzufechten und ihres Sieges insofern sicher war, als sie am Ende doch das Geld behielt; deshalb mischte sich Flore schließlich nicht mehr hinein, sondern galoppirte wieder davon, von ihrer eigenen Krankheit gejagt. Das war, was ihr Herz gefühllos machte: wenn man selbst einen zu schweren Kummer zu tragen hat, so ist für einen zweiten kein Platz mehr vorhanden. Ihre Mutter war von ihr gegangen, sie sah sie dort so bleich und zerstört liegen und doch litt sie selbst nicht mehr als vorher. Was hätte es genutzt, die Gensdarmen herbeizuholen und Misard zu denunziren, ging doch auch ohnehin schon alles in Trümmer. Und trotzdem ihr Blick noch immer auf der Todten ruhte, verlor sie diese nach und nach aus den Augen, sie fiel wieder ihrem eigenen inneren Kummer anheim, der Gedanke, der seinen Nagel in ihr Gehirn geschlagen hatte, nahm sie wieder völlig gefangen, sie hatte selbst kein Gefühl mehr für die nachzitternde Erschütterung der vorüberjagenden Züge, deren Vorbeikommen für sie die Uhr bedeutete.
    Man hörte jetzt in der Ferne das näher kommende Dröhnen des Pariser Bummelzuges. Als die Lokomotive endlich mit ihrem Signallichte am Fenster vorüberfuhr, wurde das Zimmer wie von einem feurigen Blitze erhellt.
    »Ein Uhr achtzehn Minuten,« dachte Flore. »Noch sieben Stunden. Um acht Uhr sechzehn Minuten werden sie hier vorüberkommen,«
    Schon seit Monaten wartete sie Woche für Woche auf diesen Augenblick. Sie wußte, daß der von Jacques am Freitag Morgen geführte Eilzug auch Séverine nach Paris brachte. Sie lebte nur noch dieser Qual der Eifersucht, diesem Aufpassen, diesem Anblick, dieser Gewißheit, daß Jenesich dort unten ungehindert einander hingeben durften. Der Zug entfloh und hinterließ in ihr das abscheuliche Gefühl, sich nicht an den letzten Waggon klammern und mit fortgeschleppt werden zu können! Alle diese Räder schienen den Weg über ihr Herz zu nehmen. Sie hatte schon soviel gelitten, daß sie sich eines Abends heimlich hinsetzen wollte, um dem Gericht zu schreiben; dann war alles zu Ende, denn in ihrer Hand lag es, jene Frau verhaften zu lassen. Sie hatte ehemals das unzüchtige Treiben Jener mit dem Präsidenten Grandmorin wohl gesehen und zweifelte nicht daran, daß sie durch Mittheilung dieses Umstandes an das Gericht Séverine auslieferte. Doch als sie die Feder in der Hand hatte, wußte sie die Sache nicht zu drehen. Würde das Gericht ihr überhaupt Glauben schenken? Diese ganze saubre Gesellschaft verstand sich ja so gut untereinander. Vielleicht gar steckte man auch sie in das Gefängniß wie Cabuche. Nein, sie wollte sich rächen, aber ganz allein, ohne jede fremde Hilfe. Sie beherrschte nicht einmal, genau genommen, ein directer Rachegedanken, sie wollte nicht Böses thun, um von ihrem Leiden geheilt zu werden, sondern empfand nur das Bedürfniß, mit allem zu Ende zu kommen, alles auf den Kopf zu stellen, als hätte der Donner dreingeschlagen. Sie war sehr stolz, viel schöner und kräftiger als die Andere, und glaubte, es sei ihr gutes Recht, ebenso geliebt zu werden. Wenn sie auf den Fußsteigen jener Wolfsgegend mit ihren unbedeckten, blonden schweren Haarflechten einsam dahinwandelte, wünschte sie Jene vor sich zu haben, um in einem Winkel wie zwei feindliche Amazonen ihren Streit mit der Faust austragen zu können. Noch nie hatte ein Mann sie berührt, denn sie schlug jeden Versucher in die Flucht; und darin lag ihre unbezwingliche Stärke, die Gewißheit

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